Erstellungsjahr: 2008
Ersteller: Kelven
Genre: Horror, Mystery
Spielzeit: Ca. 3 Stunden
Engine: RPG Maker 2000
Kelven hat in den ersten Jahren seiner Makeraktivität einige größere Fantasy-Rollenspiele, aber ebenso klassiche Horrorspiele veröffentlicht, die sich mal mehr mal weniger an den prominentesten Elementen des Genres bedienten. 'Finstere Träume' aus dem Jahre 2008 schien damals auf den ersten und zweiten Blick ein weiterer Vertreter dieser Kelvensparte zu sein, ein stimmiges doch überraschungsarmes Gruselmärchen für zwischendurch im bekömmlichen Retrogewand. Dahinter steckte wesentlich mehr, doch das musste man selbst herausfinden.
Aufgrund der Natur von 'Finstere Träume' ist es buchstäblich unmöglich, ein längeres Review darüber zu verfassen ohne das komplette Erlebnis empfindlich zu spoilern und damit den ersten Spieldurchlauf effektiv zu verderben. Darum gibt es hier in Kürze und Würze das Vorfazit mit dem dringenden Hinweis, dass dieses Werk mehr als die meisten anderen Makerspiele davon lebt nicht gespoilert zu werden und ihr euch, gemäß dem Fall ihr mögt Pixelhorror oder seid gar mit Kelvens Werken vertraut, umweglos heran wagen solltet. Ihr müsst eine Vorliebe für knifflige Rätsel haben, aber mehr Hürden gibt es nicht. Wollt ihr nicht selbst Hand anlegen ist dies ein Spiel, das sich auch sehr gut auf Youtube von einem Lets Player anschauen lässt, im Gegensatz zu den meisten Horrorwerken, die man selbst erleben muss. Und jetzt hört hier bitte auf zu lesen, falls ihr das Spiel nicht durchgespielt habt. Ihr verderbt euch sonst ein hervorragendes Erlebnis.
Von hier an werde ich also nun offen über Finstere Träume Schreiben und Spoilern.
Es gibt freilich nicht viele Makerspiele in der deutschen Community, die im Kern von einem 'Twist' leben oder in ihrer Story überhaupt welche einsetzen - Und noch weniger gibt es stimmungsvolle Spiele, die plötzlich einfach mal so das Genre wechseln, weder im Pixelsegment noch sonstwo. Wenn wir einen schnellen Blick auf Kelvens damalige Historie werfen - Die Zeit um 2008 herum - sehen wir seine Projekte Deep im Dunkeln, Finstere Träume und Sonnenschauer. Dem Herren war offensichtlich nach Parodie zumute.
Der Geniestreich, der Kelven mit Finstere Träume meiner Meinung nach gelungen ist war es, ein scheinbares Horrorspiel zu nehmen und es am Ende des ersten Drittels als gänzlich-satirische Parodie auf das Horrorgenre, die eigenen Spiele und diverse bekannte Vertreter zu enthüllen. Wir kennen Beispiele von (Indie-)spielen, die uns zu Anfang eine heile Welt vorgaukeln und sich dann als Horror herausstellen. Doch umgekehrt? Da wird es rarer. Für mich persönlich ist der Twist in 'Finstere Träume' der beste 180°-Turn der ganzen Makerszene, und ich lache heute noch Tränen wenn ich LPern dabei zusehe, wie sie es nicht kommen sehen und dann mental mehr und mehr kollabieren.
Das wirklich Raffinierte dabei ist, dass die Hinweise darauf sich vorher schon auftürmen, wenn man es denn weiß. Die kleine, großbusige Jessica, die auf all die schrecklichen Ereignisse, die Gewalt und das Verschwinden ihrer Familie mit stumpfer Eiseskälte reagiert? Der selbe, arme Trottel, der als Running-Gag aller paar Minuten von irgendetwas Gefährlichem verschwenderisch-brutal zerfetzt wird? Die pure MASSE von prähistorischen Gruselklischees aus Konsorten wie Silent Hill, Resident Evil oder dem Haunted House-Genre, die hier komplett wahllos auf den Spieler geschmissen werden wie die erste Hälfte eines bestimmten, bekannten Horrorparodie-Films es damals tat? Auch und vor allem seine eigenen Werke lässt Kelven über die Planke gehen, von Aliminator über Desert Nightmare und Calm Falls bishin zu Verlorene Seelen wird alles durch den Kakao gezogen und das mit dem herrlichst-platten Humor der einem im Pixelsegment geboten werden kann.
Das ist nicht selbstverständlich - Kelvens humoristische Parodien sind Hit or Miss. Startet man seine ebenso witzig-gemeinten Werke 'Deep im Dunkeln' oder 'Alex III' wird man nur sehr wenig zu Lachen haben, doch dann eben präsentiert er Spiele wie 'Finstere Träume' oder 'Sonnenschauer' in denen Kelven zeigt, wie fantastisch er stumpftrumpfen Humor umsetzen kann, wenn er denn will.
'Gewalt ist falsch!'
Ob nun die von den Gewaltpornos ihres großen Bruders abgestumpfte Jessica, der hirn-, doch nicht herzlose Frankensteinverschitt 'Fifi', die erotische Wirkung einer nackten Mutti auf der Folterbank, das ekstasische Kampfsysten, die sich am Ende in haarsträubend-hanebüchener Logik zusammensetzenden Geschichten aller beteiligten Personen oder eben der Twist-Moment - Ganz nebenbei wird da einfach mal die KOMPLETTE Narrative von zwei Weltraumpolizisten eingerissen, nebst euphorischem Heldentheme. Alles in Finstere Träume ist lustig und alles arbeitet hervorragend auf den Twist und schließlich das emotionsgeladene Finale mit den vermutlich besten Credits (Hyperbel, yay!) der deutschen Makerszene hin. Der Wiederspielwehrt ist entsprechend hoch, oder eben die diebische Freude, jemand Ahnungslosem dabei zuzusehen.
Gruselige Rätsel & Arcadige Kämpfe
Beruhigend und aufreibend zugleich ist die Tatsache, dass Finstere Träume sich nicht auf seinem Twist ausruht - dafür kommt dieser auch viel zu früh, was man durchaus noch etwas hätte hinauszögern können. So aber muss man sich von Anfang bis Ende der Reise durchs Herrenhaus-Labor-Dimensionsvoid mit den typischen Kelvenrätseln außeinandersetzen, das schließt trockene Schieberätsel ebenso wie Zahlencodes und Logikprobleme ein. Manche davon gestalten sich kreativ und unterhaltsam, wiederum andere sind Geduldsproben. Hier und da wird für meinen Geschmack die Frequenz und Komplexität der Rätsel überspannt, was dem humoristischen Charakter und dem Pacing der Handlung schadet, doch wenn man mit der Erwartungshaltung eines Kelven-Horrors den Titlescreen betritt, wird man damit rechnen.
Trotz dem Twist fehlt es 'Finstere Träume' gerade im ersten Drittel nicht an gelungener Atmosphäre und effektiven Jumpcares, was gerade im Releasejahr des Spieles zu Kontroversen führte. Nicht jeder war glücklich über den gefallenen Mantel, nicht jeder begüßte den parodischen Charakter. Viele Spieler trauerten um einen guten Stimmungsaufbau und ein solides Horrorspiel, doch damals wie heute aus der Perspektive des Jahres 2021 übersehen diese Spieler meiner Meinung nach das größere Bild - Finstere Träume hätte ein anständiges Horrorspiel werden können wie Kelvens bis dato existierende Werke, doch durch seinen popkulturellen Rundumschlag gegen sich selbst und alles, was das logikleere und backbillige Horrorgenre gerade im Videospielesegment hervorgebracht hatte, hat es sich in meiner Wahrnehmung einen Platz als das einzige Spiel dieser Art und vermutlich eine der raffiniertesten Ideen mit der urkomischsten Umsetzung überhaupt in diesem Medium in den Maker-Analen gesichert. Es gibt keine vergleichbaren Werke, und auch wenn 'Finstere Träume' durch viele Rätsel und vielleicht eine halbe Stunde zu gestreckter Spielzeit im Mittelteil natürlich kleine Schwachpunkte aufweist, ist dies vermutlich auch jetzt, 13 Jahre später, im Großen und Ganzen noch immer die beste, spielerische Horrorparodie die existiert.
Fazit - Dann ist ja alles geklärt.
Als Horrorfan bekommt man von Finstere Träume ein gutes erstes Drittel mit hübschen Effekten und guten Jumpscares. Als Ahnungsloser bekommt man vermutlich die beste Horrorparodie im Pixelspielgenre. Der Humor ist so platt und selbstironisch, dass man sich mindestens ein halbes Dutzend Mal beim Schmunzeln erwischen wird, sei es weil man die parodierten Elemente auch noch aus heutigen Gruselspielen oder Filmen wiedererkennt oder nicht glauben kann, wie stumpf Kelven das noch ins Spiel gezimmert hat. Der Twist ist absolut großartig inszeniert und sorgt für enormen Wiederspielwert, außerdem ist das folgende Kampfsystem ebenso unterhaltsam. Dem gegenüber stehen die vielen Kelvenrätsel, die Geduld und Hirnschmalz verlangen, ebenso wie ein Pacing, das im Mittelteil etwas gestreckt wirkt.
Für mich waren das nur bedeutungslose Kerben auf dem Antliz von etwas Besonderem, und wer dem Gameplay aus dem Weg gehen möchte, der bemüht eben ein LP vom Projekt - Es lohnt sich. Finstere Träume ist etwas Besonderes und es ist Erstaunlich, dass es nicht mehr Parodien dieser Art gibt. Ja, es könnte das lustigste deutsche Makerspiel sein, wäre da nicht Sonnenschauer. So aber ist es immer noch eine bewusst-bescheuerte Überraschungstüte, die sich im Zweifelsfall auch für Maker-Unkundige und Oma Uschi eignet - Die Reaktionen sind Teil des Reizes.
Finstere Träume
-> Yoraiko findet dich genial!
- Y
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