Freitag, 28. Februar 2020

Produktionsschule Leipzig - Mehr als Bildung, Buch und Staub, weg vom Schultisch, mit Verlaub!


Produktionsschule Leipzig 

   Mehr als Bildung, Buch und Staub,
weg vom Schultisch, mit Verlaub!




Ein leeres Klassenzimmer. Ausgestattet mit nichts weiter als zwei Kreidetafeln, ein paar Stühlen und ausgefranstem Teppichboden. Ein Mann mit fragendem Blick, der uns anleitende Pädagoge. Zehn Jugendliche. Keiner von ihnen gerne hier. Eine unangenehme Stille. Schweigen im Stuhlkreis. 2010 in Leipzig. 

Der immerhin äußerst aufgeweckt wirkende Andreas Lehmann räuspert sich, sieht uns mit großen Augen an und fragt mit unverhohlener Ratlosigkeit:

"Und, hat einer einer von euch eine Ahnung, was wir jetzt machen sollen?"


Dem folgt eine weitere, erdrückende Sprechpause. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass wir Jugendlichen irritiert sind. Der zerstreute Werkstattpädagoge vor uns hat sich nicht vorbereitet, hat k einen blassen Schimmer was er mit uns anfangen soll und weiß nicht einmal, warum wir uns in den traurigen Überresten eines Klassenzimmers befinden. Aber, und das merken wir ebenso schnell, er ist ehrlich. Ehrlich, aufrichtig und auf Augenhöhe mit uns - eine klassische Hierarchie existiert von Anfang an nicht.

Also beginnen wir zu reden. An unserem ersten Tag als Teilnehmer der Produktionsschule Leipzig. Vielleicht interessiert es Sie, wie ich zu diesem einzigartigen Projekt gekommen bin und was ich heute, zehn Jahre später, darüber denke. Lassen Sie es mich Ihnen in aller Kürze erzählen
.







1. Die Anfänge
2010 hing ich schulisch, familiär und sozial in den Seilen. Ich war mit meinen 15 Jahren ein großer Problemfall, hatte damit zu kämpfen, die neunte Klasse zu absolvieren und wusste nicht, wie es weitergehen soll - meine zuständige Bearbeiterin des Jugendamtes - wo immer sie gerade auch sein mag ich hoffe sie gewinnt im Lotto - hat dann aus dem Blauen heraus erwähnt, dass es da bald dieses interessante neue Bildungsprojekt gäbe, von dem sie einen Flyer gesehen hat - Produktionsschule Leipzig. Wenig interessiert machte ich bei Direktor Arne Meisel einen Termin und - na klar - verpasste ihn aus Desinteresse. Nach einem Anruf war man ohne großes Nachfragen bereit, mir einen Neuen zu geben. Diesmal erschien ich, war vom offenherzigen und bodenständigen Direktor positiv überrascht und schrieb mich für den Handel ein. Einige Wochen darauf feierte die Produktionsschule ihren ersten Tag und die dargestellte Szene im Klassenzimmer spielte sich ab. Wir begannen zu reden.

Wir stellten uns einander vor, arbeiten in der Gruppe zusammen und sammelten Ideen - jeder wurde ernst genommen, jeder Einfall besprochen. Nach zwei Tagen waren wir nur noch zu fünft, aber das war in Ordnung, die Interessierten hatten sich eingespielt, der Rest ging seines Weges. Die Idee, an den zwei vorhandenen Computern Flyer zu erstellen und in der Gegend Dienstleistungen wie Haushaltshilfen anzubieten setzte sich durch und beschäftigte uns fortan in diesem trotz aller Mühe sterilen, leeren Büroraum. Ich durfte mich als halbwegs computer-affiner Mensch mit dem Design der Flyer auseinandersetzen und abgesehen davon, dass ich mich heute alleine schon für das Layout verprügeln würde, hatte ich die zwanghafte Angewohnheit, ein - urheberrechtlich selbstverständlich höchst problematisches - Comicbildchen auf die Flyer zu setzen, um sie 'besonders' zu gestalten. Die ratlosen 'Warums' meiner Kollegen ignorierte ich und Andreas Lehmann zuckte lächelnd mit den Schultern. Wir zogen gemeinsam los und verteilten sie in der Stadt. In den folgenden Wochen erreichte uns der eine oder andere Anruf - Ein Umzug, eine Garten-Umgrabung, eine auszumistende Messiwohnung eines Strafgefangenen, ein anzubohrender Spiegel. Wir waren nicht immer kompetent, aber wir sind rausgegangen, haben verschiedene Dinge probiert und dabei mehr oder weniger effektiv zusammengearbeitet. Bei dem Spiegelschrank, den wir einer älteren Dame anbringen sollten und uns dabei recht unversiert anstellten, fragen wir uns heute noch, ob er die arme Frau nicht doch wenige Stunden nach unserem Einsatz unter sich begraben hat.


                         
Werkstattpädagoge Andreas Lehmann mit zwei Teilnehmern der ersten Generation


Abseits von der Arbeit ging es hoch her in der Anfangszeit - wie man es sich vorstellen kann, wenn man eine Handvoll problematischer und gereizter Jugendlicher in einen Raum sperrt und einen Pädagogen dazu stellt, der einen extrem, nun, liberalen Ansatz hat, was die Maßregelung dieser angeht. Unvergessen für mich die Szene, in der ein anderer Teilnehmer und ich uns vor versammelter Mannschaft auf der Treppe der Produktionsschule wegen einer Lappalie in den Haaren hatten, bis Direktor Arne Meisel selbst dazwischen ging und uns ordentlich die Köpfe wusch. Unvergessen für Andreas Lehmann und mich, wie ich im Frust einen Apfel aus unserem Klassenzimmer im zweiten Stock geworfen und damit unbeabsichtigt einen Teilnehmer des nahen BvJ an den Kopf getroffen habe - Keine Sorge, ihm ging es gut und ich bekam eine verdiente Standpauke, die sich gewaschen hatte. Es war nicht immer einfach, wirklich nicht, weder für uns Teilnehmer noch für die Pädagogen der Produktionsschule, die tagtäglich eine Engelsgeduld mit uns bewiesen. Aber es war diese unvollkommene, ehrliche und zwanglose Art, die uns alle irgendwie zusammen schweißte und sich bei uns auf lange Sicht einprägte.



2. Der große Umschwung
Eine Entwicklung heraus aus unserem Hamsterkäfig im Produktionsschulgebäude gab es endlich, als man sich entschied, eine nahegelegene Kleiderkammer zu übernehmen und sie in unsere Verantwortung zu geben - mit großer Vorfreude, endlich eine aktive und anspruchsvolle Aufgabe übernehmen zu dürfen, begaben wir uns in unser neues Wirkungsfeld und stolperten sowohl über unsere Kinnladen als auch über die sich auftürmenden Wäscheberge. Der Privatbereich der Kleiderkammer war über und über mit alten Sachen gefüllt, so dicht, dass man den Boden nicht sehen geschweige denn sich problemlos bewegen konnte. Wie Moses das Meer spalteten wir den Ozean aus Altkleidern. Zwei, drei Wochen lang misteten wir Stunde um Stunde aus, sanierten die Räumlichkeiten, strichen, richteten uns neu ein und ackerten, bis wir ein uns halbwegs angenehmes Arbeitsumfeld geschaffen hatten. Es war eine aufregende Zeit - wir sahen mit an, wie durch uns etwas entstand. Wir fanden einen Sinn für uns als Handelsabteilung, wo wir ihn vorher noch nicht kannten, weder wir Jugendlichen noch Pädagoge Andreas Lehmann. Wir verteilten die Aufgaben, fanden uns ein und wussten - Ja, das ist ab jetzt die Abteilung Handel - Die Kleiderkammer am Adler. Unsere Kleiderkammer. Und das ist sie bis heute, nach wie vor erfolgreich, wie ich höre.




3. Die Kleiderkammer am Adler 
Ich würde mich nicht als einen Mann vieler Talente bezeichnen, aber wenn es eines gibt, das ich schon immer beherrschte, ist es mein Mundwerk. Nicht wenn es darum ging, es zu halten, wohl aber wenn ich jemanden um den Finger wickeln oder mich von meiner besten Seite zeigen wollte. Da ich somit der Einzige von uns war, der sich nicht scheute, täglich Kontakt mit den Kunden der Kleiderkammer zu haben, wurde ich automatisch auf den Posten des Kassierers gesetzt, während meine Kollegen im Hintergrund arbeiteten. Es gibt zahlreiche amüsante und haarsträubende Anekdoten, die man als Verkäufer und Preisgestalter einer Kleiderkammer so sammelt, manche davon erzählen wir uns heute noch. Nun ja, eines steht fest, ich konnte alles verkaufen - Da gab es diesen Herren, der unter unseren häufigeren Kunden war und eines Vormittags eine gebrauchte Zahnbürste entdeckte, die wir nur zur Deko im Fenster stehen hatten - er erkundigte sich, ob sie denn gebraucht wäre, woraufhin ich meinen Verdacht äußerte, dass das wahrscheinlich der Fall sei, es aber dennoch eine sehr schöne Zahnbürste ist. Es war nicht ernst gemeint, schien ihn aber zu überzeugen. Verkauft. Dann gab es einen anderen Herren, der bei uns an einem gebrauchten Deoroller interessiert war - Ich schwöre, ich habe ihm nicht die Unwahrheit gesagt. Nicht direkt. Verkauft. Es gab Kunden, die beinahe jeden Tag kamen, mich kannten und dennoch immer wieder aufs Neue versuchten, den einen oder anderen Penny wegzufeilschen. Da war diese Dame, die wollte, dass ich die Schuhe putze bevor ich sie ihr gebe - was ich selbstverständlich tat. Verkauft. Ich empfahl Kindern von Kunden die neuesten Plüschtiere im Sortiment und durfte oft sogar modisch beraten. Ich kann vollen Gemüts sagen, dass ich in diesen anderthalb Jahren täglicher Kassentätigkeit im Umgang mit den verschiedensten Menschen mehr soziale, sprachliche und finanzielle Kompetenzen erworben habe, als in drei Jahren Schule zuvor.

Einer der anderen Teilnehmer der ersten Generation, Steven Henschel, ist neben mir einer der wenigen, die sich heute noch blicken lassen. Er und ich waren uns dazumal alles andere als Grün und sind uns weit mehr als nur einmal an den Kragen gegangen, aber vor einigen Wochen haben wir uns das erste Mal seit vielen Jahren wiedergesehen, uns lächelnd die Hand gegeben, in Erinnerungen geschwelgt und darüber geredet, wie es uns jetzt geht. Auch er fand ein paar Worte darüber, was die Produktionsschule für ihn bedeutete:


"Damals hing ich privat und beruflich ziemlich in der Luft. Ich war beim Netz kleiner Werkstätten des BBW, als man mich zur Produktionsschule vermittelte. Ich lernte Andreas Lehmann kennen und es funkte einfach sofort. Der Mann inspirierte und motivierte uns, so dass sich Produktionsschule für mich nicht wie eine Maßnahme anfühlte. Er war der Hauptgrund, dass ich mich in der Kleiderkammer so engagierte, er ließ einen selbstständig arbeiten, wenn er das Potential sah.

Klar hat man sich mal untereinander gestritten oder nicht jeder kam mit jedem aus. Ich war sehr verschlossen und die Anderen brachten auch so ihre Probleme mit. Aber man engagierte sich miteinander, wir hatten nur uns.

Wer das nicht wollte, der blieb gleich ganz weg. Ich aber bin froh, dass ich es durchgezogen habe. Ich kam immer gerne und tue es heute noch."



Natürlich gab es da nicht nur goldene Momente. Nein, ich hatte auch meine Schnapsideen. Unvergessen der glorreiche Einfall, unsere Kaffeekasse mit einer Spendenbox aufzubessern, auf der 'Für einen guten Zweck' stand. Ich meine, es war nicht gelogen... oder die phänomenale Idee, den Kunden eine Losbox anzubieten - Tagelang schnitten und falteten wir Lose, die pro Stück 10 ct. kosten sollten. Unnötig zu erwähnen, dass unter den etwa 300 Losen beinahe 270 Nieten waren und der Rest sich aus mageren Trostpreisen zusammensetzte, für die sich selbst der örtliche Krämer in die Fötus-Position geschämt hätte. Nein, sagen Sie nichts - Ich weiß, was Sie denken. Warum sitzt dieser Psychopath noch nicht hinter Gittern? Nun, wenig überraschend hat keiner die Dinger gekauft und als Andreas Lehmann davon erfuhr redete er uns diesen Irrsinn auch schnell wieder aus. Wagte es allerdings jemand, Kritik an der Kleiderkammer zu üben, wussten wir, was wir zu tun hatten -

Einen süßen Teddybär nehmen, ihn als Kritiker ausschildern und mit roter Farbe so wie einigen Werkzeugen bearbeiten.

Verurteilen Sie mich ruhig, es war einer jener langen Vormittage, an denen zwei gelangweilte Jugendliche mit zu viel Energie alleine in der Kleiderkammer waren und der festen Überzeugung aufsaßen, dass das doch ein irrsinnig komischer Ulk wäre. Ein Mitarbeiter des BBW sah das Schaufenster, rief verständlich-verstört Andreas Lehmann an und dieser bewegte sich bei seiner Rückkehr auf einem schmalen Grad schwarzer Belustigung und pädagogischem Entsetzen. Wir begruben das bedauernswerte Plüschtier. Aber es gibt noch immer eine außergewöhnliche Anekdote bei jedem Mittagessen her.




4. Familiäres Umfeld
Die Kleiderkammer wurde für uns der ersten Generation bald mehr als nur Arbeitsstelle und es hat seine Gründe, dass die Abteilung Handel den mit Abstand größten Anteil von Ex-Teilnehmern aufweist, die der Produktionsschule noch immer regelmäßige Besuche abstatten - Es war ein familiäres, gemütliches Umfeld. Andreas Lehmann war immer ein Pädagoge, der eine Vaterfigur für seine Teilnehmer darstellte. Er gab keine Anweisungen, er gab Vorschläge. Er maßregelte nicht, er wies auf Missstände hin. Und das immer empathisch, egal wer oder wie alt sein Gegenüber war. Unsere Arbeitsweise gestaltete sich liberal, jeder kannte seine Aufgaben und durfte auch zwischen diesen springen. Wenn jemand es mal nicht pünktlich schaffte, war das eben so. Wenn jemand einen wichtigen Termin wahrnehmen musste, wurde er weggeschickt. Wenn jemand sich im hinteren Bereich für eine Stunde ausruhen wollte, organisierten wir das. Und so leid wir das täglich verpflichtende, gemeinsame Mittagessen aller Abteilungen im Hauptgebäude anfangs auch waren, so sehr stärkte es doch das Gemeinschaftsgefühl unter Teilnehmern und Pädagogen - selbst wenn man wie ich jedes Mal nur das Ausweich-Gericht Currywurst bestellte und die sich abmühende Küche damit nach und nach in die Apathie trieb.

Unsere Kleiderkammer wuchs nach und nach zusammen, trotz unserer Differenzen, denn wir lernten uns miteinander zu engagieren. In wunderbarer Erinnerung behalten werde ich die Weihnachtsfeiern, die wir im privaten Bereich für uns veranstalteten - Wir schmückten, kauften aus eigener Tasche Essen, kochten zusammen und beschenkten uns sogar. Der Laden war dann zu und die Kleiderkammer wurde zu einer Wohnstube. Ich kann trotz meiner regelmäßigen Besuche heutzutage nicht mehr ganz abschätzen, wie sich das im Laufe der Jahre gewandelt hat, weiß aber, dass es heute natürlich nicht mehr ganz so klein, intim und gemeinschaftlich ist, wie zu Anfangszeiten - aber das ist normal, wenn ein Projekt größer wird und voranschreitet. Aber was ist das Projekt Produktionsschule eigentlich? So viel sei verraten: Es hat etwas mit Bildung zu tun. Aber Bildung ist ja nicht gleich Bildung



Jeder erlebt Bildung, Ausbildung und Schule anders, es gibt zahlreiche Umstände und Möglichkeiten, die diesen Pfad beeinflussen können. Für mich persönlich war das eben die Produktionsschule Leipzig des Berufsbildungswerkes, vielleicht die einschneidenste Erfahrung meines Lebens. Als Sozialassistent mit 25 bin ich sicherlich weit davon entfernt, die Vorzeige-Erfolgsgeschichte unserer Gesellschaft zu sein, aber ich stehe stabil im Leben, habe Arbeit und kann privat meiner Leidenschaft - dem Schreiben - nachgehen. All das wäre mit Sicherheit anders gekommen, wenn ich nicht zwei Jahre an der Produktionsschule Leipzig zugebracht hätte. Und nein, zu diesem Text hat mich niemand angestiftet und sicherlich verdiene ich keinen müden Groschen daran. Dieser Artikel entsteht aus eigener Überzeugung und als kleines, unbedeutendes Dankeschön für alles, was die Produktionsschule mir gegeben hat.


5. Unser Schulsystem 
Unser Schulsystem ist wie der Souvenir-Shop am Ende eines Zoos: Jeder geht durch, keiner nimmt was mit. Diese These ist freilich überspitzt, aber sie trifft den Kern meiner Einstellung zum heutigen Bildungssystem. Die ganze Idee von Bildung - und ich rede hier erst einmal nur von Deutschland - basiert für uns darauf, dass ein Mensch vorne an der Tafel steht, Dinge aufschreibt und sie uns erklärt. Dann schreiben wir sie auf, wenden sie in Tests an und wiederholen das bis zu unserem Abschluss. Die Sinnhaftigkeit der seit Generationen festgelegten Unterrichtsstoffe spielt dabei freilich keine Rolle - haben Sie nach Abschluss Ihrer Schulausbildung jemals wieder Ihr erlangtes Wissen in fortgeschrittener Geometrie gebraucht, falls Sie nicht in einem entsprechenden, stark spezifizierten Berufszweig gelandet sind? Oder Bruchrechnung? Vielleicht bin ich mir der ernsten, hochrangigen Stellen zu unbewusst, aber die Wenigsten können diese Frage mit Ja beantworten. Das ist allerdings ein anderes Thema, der Punkt ist - unser Bildungssystem fußt ganz und gar auf trockener Theorie.

Die Produktionsschule, die eher Schulersatzprojekt als vollblütige Bildungseinrichtung darstellt, hat mit Trockenheit nicht viel am Hut - Hier ist alles feucht fröhlich, praktisch, aktiv, sozial, ANWENDBAR. Manch einer mag es als pragmatisch zusammenfassen. Sie ist der gelebte Gegenentwurf zu einem veralteten System, das nachweisbar mehr und mehr darin versagt, unsere Jugend auf die Gesellschaft vorzubereiten - und es funktioniert. Das kürzliche zehnjährige Jubiläum so wie die Erfolgsgeschichten zahlreicher Absolventen - Zwinker Zwinker - beweisen das. Aber was genau ist Produktionsschule und warum funktioniert sie so gut?


6. Produktionsschule Leipzig

Die Grundidee der Produktionsschule zu ihrer Gründung und heute ist das (Wieder-)Eingliedern Jugendlicher und junger Erwachsener in einen geregelten Arbeitsalltag, der sich durch Wertschätzung und Fortschritt definiert. Dazu stehen die drei Arbeitsbereiche Handel, Holzwerkstatt so wie Hauswirtschaft zur Verfügung, auf die sich die Teilnehmer verteilen. Ob nun jemand noch keinen Abschluss oder keine berufliche Perspektive hat, mit der Schule nicht mehr zurecht kommt oder einfach unfähig ist, selbstständig einen geregelten Arbeitsablauf herzustellen - die Produktionsschule kümmert sich darum. Dabei versteht sie sich sowohl als Auffangprojekt sowie als Jugendhilfe und Berufsvorbereitung.

Schön und gut, das könnte im Klappentext stehen, aber was macht diese Einrichtung für mich aus? Diese Frage ist einfach damit zu beantworten, dass ein jeder Jugendlicher, der hier strandet, als Mensch wertgeschätzt wird. Er ist keine Zahl im System und kein Problemfall, den es zu bearbeiten gilt, er ist eine Person die sich einbringen kann und soll, auf seine eigene Weise. Das mag selbstverständlich klingen, wenn wir aber mal genauer darüber nachdenken wird uns klar, wie selten dieses Vorgehen ist - Effizienz und eine saubere Statistik stehen in der Prioritätenliste zumeist höher. Die Produktionsschule, die auch heute noch ein vergleichsweise kleiner, intimer Betrieb ist, hat sich nie von seiner warmen, wertschätzenden Atmosphäre gelöst, und das liegt vor allem auch an den Werkstattpädagogen - diese SIND die Produktionsschule. Vom ersten und damaligen Direktor Arne Meisel über administrative Kräfte wie Annette Jäcklein oder Katja Grosch bis hin zu den für die Teilnehmer wichtigsten Bezugspersonen, den Pädagogen - zum Beispiel der von Anfang an involvierte und auch heute noch leidenschaftliche Andreas Lehmann vom Handel, mit dem mich seit zehn Jahren eine enge Freundschaft verbindet. Ja, ich glaube es auch noch immer nicht so recht.

Diese Personen repräsentieren die Produktionsschule dadurch, dass sie ein oftmals surreales Ausmaß an Verständnis und pädagogischer Kompetenz gegenüber den jugendlichen Teilnehmern mitbringen, das mich damals schon ehrlichen Respekt empfinden ließ. Ob nun übermütige Jungspunde, die sich in einer Streitigkeit prügeln wollen, lose Münder die Schimpfwörter ausatmen wie manch anderer Sauerstoff oder ganz offen gesagt schwierige, soziale Extremfälle - statt Strafpredigten und verurteilende Blicke gibt es hier eher oft als selten die Hand auf die Schulter und ein Gespräch auf Augenhöhe.


Kein 'So redest du nicht mit mir!', sondern ein 

'Reden wir doch so miteinander wie es uns allen angenehm ist, in Ordnung?'
Kein 'Wir planen und lernen uns erst mal kennen und planen und tun dann vielleicht irgendwann...' sondern ein
'Wir MACHEN das jetzt einfach!'

Die Produktionsschule steht für Aktivität und Praxis, für Verständnis und individuelle Förderung im ursprünglichen Sinne. Das sind hier nicht nur Schlagwörter für die PR-Abteilung, hier steht der Mensch im Mittelpunkt. Leiter der Handelsbereich-Kleiderkammer am Adler, Andreas Lehmann, der in seinem nicht endenden Enthusiasmus, seinem geradezu wahnwitzigen Tatendrang und seiner beinahe kindlichen Adaptivität auf Jugendliche für mich die Idee der Produktionsschule mehr verkörpert als jeder andere, hat ein paar ganz eigene Worte darüber, was das Konzept für ihn bedeutet und ausmacht:


"Produktionsschule heißt, dass man was MACHT. Die Produktionsschule lässt gegenüber anderen Maßnahmen und Formaten, die in der Regel pädagogisch eingeschränkter sind, mehr Freiheit, Empathie und Wertschätzung zu, und damit gewinnt man eine ganze Menge bei Heranwachsenden.

'Hände aus den Taschen, ihr seid was wert.'

Ich persönlich habe auch gemerkt, dass mir das Ganze einen Heidenspaß macht, weil der Abwechslungsreichtum und die vielen Personen die ich regelmäßig kennenlerne einfach nie Ödnis oder trögen Alltag aufkommen lassen."



Als Teilnehmer der ersten Stunde habe ich zu Beginn eine persönlichere Perspektive beigetragen und damit vielleicht ein Stück weit herübergebracht, was das alles eigentlich ausmacht und warum ich die Kollegen noch heute gerne besuche. Aber daran hängt noch mehr - denn irgendwann endete meine Zeit.


7. Abschluss & Nachbetreuung
So wenig ich es wahrhaben wollte, nach 2 Jahren an der Produktionsschule näherte sich auch meine Teilnahme als letzter 'Erstling' dort dem Ende - länger durfte ein Jugendlicher nicht im Projekt verbleiben und für mich war es Zeit, mich weiter zu entwickeln. Mit großer, ausgedehnter Hilfe sämtlicher Pädagogen schrieb ich Bewerbungen, stellte mich vor, plante voraus, gelangte letztendlich auf eine Abendschule, holte in drei Jahren Haupt-, so wie Realschulabschluss nach, absolvierte eine zweijährige Ausbildung und hier bin ich nun. Aber die Nachbetreuung der Produktionsschule hatte noch ganz andere Formen.
Mit achtzehn Jahren befand ich mich vielleicht in der schwersten Phase meines Lebens. Ich hatte extreme familiäre, emotionale und finanzielle Schwierigkeiten, die mich mehr als nur einmal und über längere Zeit mit Obdachlosigkeit, Hunger, Depression und Überforderung zurückließen. Die gesetzliche Nachbetreuung eines ehemaligen Teilnehmers, die in einer solchen Form nicht mal existent geschweige denn verpflichtend für die Pädagogen der Produktionsschule gewesen wäre, wurde von ihnen als Vorwand genannt, mir zu helfen. Da wurde ich, als ich wirklich ganz, ganz unten war, mit etwas zu Essen versorgt und zu diesem und jenem Amt geschickt, um meine Situation zu verbessern. In den schlimmsten und für die Kollegen äußerst belastenden Situationen absolvierten diese Umzüge für mich, die ich sonst nie hätte bezahlen können. Sie halfen mir, eine Wohnung zu finden, unterstützten mich in meiner Erstausstattung, stellten gemeinsam mit mir die Einrichtung zusammen und transportierten diese auch gleich... ich denke, Sie verstehen. Die Kollegen und Pädagogen der Produktionsschule haben Jahre(!) nach meinem Abschluss dort Dinge für mich getan die weit über jede eventuelle gesetzliche Bestimmung hinausgehen, einfach weil es ihnen nicht egal war - ein solches Engagement habe ich nie wieder erfahren. Nicht zum letzten Mal in diesem Artikel sage ich meinen damaligen Kollegen, alten und neuen Pädagogen dafür danke. Ohne euch hätte ich es nicht geschafft.




 
Die Werkstattpädagogen der Produktionsschule in erster Generation – v.l.n.r.:
Arne Meisel, Stefan Kluge, Andreas Lehmann, Katja Grosch, Annette Jäcklein und Torsten Hempel


8. Was geblieben ist
Die Konsequenz dieser langen Historie sollte sein, dass ich emotional an die Produktionsschule gebunden war, vielleicht mehr als irgendein anderer Teilnehmer sonst. Vor allem in Andreas Lehmann sah ich einen seelenverwandten Freund, den ich heute noch regelmäßig sehe und noch immer herzlich mit ihm über stumpfe Witze lache. Nach wie vor freue ich mich, die Kollegen der Abteilungen beim gemeinsamen Mittagessen zu treffen und mich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Oft werde ich auf Produktionsschul-Tage oder ähnliche Veranstaltungen eingeladen. Natürlich nicht nur ich - jeder Ex-Teilnehmer ist immer gerne gesehen und nach wie vor willkommen. Die Liste an Leuten, die die Produktionsschule absolvierten und noch immer gute Beziehungen zu ihr pflegen, ist mittlerweile beträchtlich.

Für mich war sie eine prägende Erfahrung fürs Leben, die mich psychisch, sozial, emotional und pädagogisch extrem hat reifen lassen und die ich nicht für einen saubereren Schulabschluss oder ein hochwertiges Studium eintauschen würde.



9. Fazit
Wenn Sie, werter Leser oder gar charmante Leserin, diesen langen Artikel bis hierhin aufmerksam gelesen haben, bedanke ich mich vielmals bei Ihnen. Vielleicht ist es mir gelungen, ein Stück weit die Quintessenz herauszuarbeiten, die das Thema dieses Textes sein soll:

Die Produktionsschule ist ein besonderes Projekt von sehr besonderen Menschen für besondere Menschen. Sie lässt sich nur sehr schwer mit etwas anderem vergleichen und sollte für sämtliche Bildungs-, Sozial-, und Jugendprojekte Deutschlands als Vorbild dienen, die den Anspruch erheben wollen, wertschätzend vorzugehen. Falls jemand, den Sie kennen Probleme mit seinem derzeitigen Bildungsweg zu haben scheint, desintegriert von Gesellschaft und Alltag ist oder einfach... vom Leben überfordert zu sein scheint, dann kann ich nur ehrlichen Herzens empfehlen, ihm von der Produktionsschule zu erzählen. Sollte er auch nur entfernt etwas mit dem Konzept und der Idee anfangen können, bin ich sicher, dass ihn hier eine wertvolle Erfahrung erwartet.

Leider ist das Projekt trotz seiner zehn Jahre noch viel, viel zu unbekannt - den wenigsten ist Produktionsschule ein Begriff. Das ist vor allem deswegen schade, weil andere Projekte und Bildungsformen so viel von ihr lernen könnten. Die Produktionsschule hat mir mehr vermittelt als fünf Jahre Schulzeit oder meine gesamte Ausbildung und damit bin ich kein Einzelfall. Vielleicht erzählen Sie dem einen oder anderen davon, Sie wissen schon, ein einzelner Tropfen hebt den Ozean an und so. Geben wir der Produktionsschule etwas zurück für das, was sie in den letzten zehn Jahren für unsere Jugend geleistet hat.

Ich für meinen Teil wüsste schon, wo die Million hingeht, wenn ich mal im Lotto gewinne. Aber da ich kein Lotto spiele, wird es bis dahin mit folgenden Worten genügen müssen:

Herr Arne Meisel, Frau Annette Jäcklein, Frau Katja Grosch, Herr Hempel, Herr Küche, alle Teilnehmer der ersten und folgenden Generationen mit denen ich zu tun hatte, alle Stammkunden unserer Kleiderkammer, alle sonstigen Mitarbeiter und Pädagogen der Produktionsschule und insbesondere natürlich Herr Andreas Lehmann -









Vielen Dank für Alles.


















- Yoraiko 

Donnerstag, 27. Februar 2020

Film-Review: Die letzten Glühwürmchen - "Seitaaa!" (1988)




Es gibt Filme, die wollt ihr einmal und nie wieder sehen. Es sind Filme von denen ihr froh seid, sie erlebt zu haben, aber die ihr kein zweites Mal ertragen könnt. Requiem for a Dream wäre so ein Beispiel. Oder Wenn der Wind weht. Melancholia. Und so auch Die letzten Glühwürmchen, welches den mit Abstand prominentesten, und wenn man ehrlich ist auch einzigen, Beitrag der Anime-Industrie in diese Riege 'Hoffnungslos-Herunterziehender Depressions-Filme' darstellt. Ich sehe mir solche schweren Stoffe trotz der inneren Blutungen dabei dennoch gerne öfter an, und manche davon wirken immer wieder. Die letztem Glühwürmchen ist ein alter Klassiker und ein Must-see, das trotz seiner sichtbaren Alterung nicht nur für Anime-Fans ein in mehrerlei Hinsicht... einprägsames Erlebnis sein dürfte. Und das nicht nur, weil es einer der ersten Filme von Studio Ghibli war. 

Man wirft Die letzten Glühwürmchen nicht zu unrecht vor, allen voran ein sogenannter 'Tear-jerker' zu sein - Also ein Film, der es von Anfang bis Ende einzig und allein nur auf eure Tränen abgesehen hat. Die wahrscheinlichste Stelle, an der man heute noch über diesen Anime stößt, sind Filmlisten die deprimierende oder traurige Streifen sammeln, oder Empfehlungen für besonders Bedrückendes aus Fernost. Solche Mund-zu-Mund-Propaganda eben. Was viele dieser nicht nur positiven Meinungen allerdings übersehen, ist, dass dieser Film noch vor dem Drama-Aspekt eine schonungslose und betroffen-machende Darstellung der Auswirkungen des zweiten Weltkrieges auf die zivile Bevölkerung ist - In diesem Falle Japans. Keine reißerischen Kampfszenen, kein heimatlischer Pathos, keine unnötigen Gewaltdarstellungen und auch keine übertriebenen Emotionsausbrüche - Nur die schmutzige, trostlose, morbide und oftmals unfassbare Realität dessen, was Menschen Menschen antun.

Der Film spielt gegen Ende des zweiten Weltkrieges in Japan, wir begleiten den vierzehnjährigen Seita und seine vierjährige Schwester Setsuko bei ihrem verzweifelten Kampf ums Überleben, welches nachdem sie durch amerikanische Angriffe heimatlos wurden vor allem durch die überall in Japan vorherrschende Lebensmittelknappheit und den daraus resultierenden Hunger bedroht wird. 

Nein, man wirft Die letzten Glühwürmchen trotz der historischen Stärke nicht zu unrecht vor, eure Tränen perfide vorzubereiten und im richtigen Moment wie einen verdammten Wasserstrom abzuernten. Die gesamten 88 Minuten des Filmes widmen sich nur der Aufgabe, dass ihr Seitan und VOR ALLEM ihre von Unschuld überzogene, lebensfrohe und herzensgute kleine Schwester Setsuko in Selbiges schließt - Warum? Das wisst ihr ganz genau. Es ist kein Spoiler, denn es wird direkt am Anfang gesagt. Und selbst wenn das nicht der Fall wäre, sieht man es als Zuschauer nach den ersten fünf Minuten meilenweit kommen. Man weiß genau, was passieren wird. Man weiß, dass man manipuliert wird. Und dennoch schlägt es einem in die Magengrube, würgt den Hals ab und öffnet die Tränenschleusen mit einem Brecheisen. Die Charaktere sind wunderbar geschrieben, einfach und simpel, keine Frage, aber authentisch handelnd wie Kinder in dieser Situation es wohl tun würden. Niemand der über ein Herz oder einen Funken Empathie verfügt wird es meistern, Setsuko nicht nach drei Minuten zu lieben und vor der grausamen Welt beschützen zu wollen. Es ist dieser Umstand, der dafür sorgt, dass wir die Reise der Geschwister so gespannt und harrend verfolgen, obwohl sie nicht groß erklärt werden und der Film auch nicht übermäßig lang ist - Man möchte, dass sie es schaffen. 

Das Andere aber ist der weniger manipulative Teil, die Darstellung des besiegten Japans und seiner gebrochenen Bevölkerung. So kommen Seita und Setsuko etwa für einige Zeit bei ihrer Tante unter, welche sie ernährt - Aber eben nur bis zu einem gewissen Maß, denn beide tragen nichts zum verdienst der Familie bei. Wir erleben Bauern, die den Kindern nicht einfach so von ihrem Essen abgeben können, obwohl sie darum betteln. Wir sehen Ärzte, die Seita mit methodischer Kaltschnäuzigkeit sagen, dass seine Schwester verhungert. Wir sehen Männer, die den Jungen verprügeln weil er versucht, für seinen Schützling eine Orange zu stehlen. Der Charakter der Tante insbesondere erscheint dem Zuschauer unsympathisch, egoistisch, böse. Aber ist er das? Ist diese Frau böse, weil sie eine Familie und zwei fremde Kinder ernähren muss und darum fordert, dass diese etwas beisteuern? Nicht nur in diesem Fall lässt der Film durchaus auch Protagonist Seita nicht nur als Opfer da stehen, sondern stellt bewusst die Interpretation in den Raum, ob er in seiner Verantwortung, seine kleine Schwester zu beschützen, in vielen Momenten des Filmes nicht mehr hätte tun können - Sei es wegen seinem Stolz, seiner Naivität oder seiner Ratlosigkeit. Keiner dieser Menschen ist böse. Es war kein Geheimnis, dass diese beiden Kinder verhungern und im Sterben inbegriffen sind, jeder konnte das sehen. Es gab nur nichts, was die Menschen dagegen tun wollten oder konnten, denn um diese Zeit herum war Essen nun mal buchstäblich unbezahlbar. Und während es mich insbesondere nach dem ersten Sehen der Credits anekelte darüber nachzudenken, ob ich nicht Protagonist Seitan die Schuld für das zerstörerische Ende von Die letztem Glühwürmchen in die Schuhe schieben könne, spielt das doch eigentlich gar keine Rolle - Damals, um 1945 herum starben tausende und abertausende kleine Seitas und Setsukos an Hunger, Krankheit, Strahlung, Feuer, Unfällen, Geschossen oder Verzweiflung.

Und bin ich meistens doch auch noch so ein unbedachter und oberflächlicher Mensch, möchte ich diesen Seitas und Setsukos gedenken und betonen, dass dieser Film das auch tut. Darum ist er ein tear-jerker, ja, zweifelsohne, und die finalen Momente dieses Anime sind, trotz der hoffnungsvollen Note, beispiellos effektiv und niederschlagend. Aber Die letzten Glühwürmchen ist letztendlich mehr als das, denn deprimierend zu sein ist einfach - Dabei aber noch etwas Wichtiges auszusagen und Historie aufzuarbeiten und zu vermitteln gleich viel achtenswerter. 


Ruht in Frieden, Seitan, Setsuko. 
Ihr alle, die ihr ähnlich zu leiden hattet. 



























Audiovisuell merkt man Die letzten Glühwürmchen seine Wurzeln im Jahre 1995 deutlich mehr an als den Fantasy-Vertretern Ghiblis: Das mag am realistischen Setting liegen, sicherlich aber auch an den leicht veralteten Designs der Charaktere, das vor allem in den von Schattierungen und Lichteffekten geprägten Momenten als für heutige Geschmäcker ungewöhnlich hervortritt. Das schadet dem Film aber bei weitem nicht und er ist auch fernab von unästhetisch. 

Die Musik wird erwartungsgemäß und angenehmerweise sparsam eingesetzt, wobei sich vor allem das letzte Drittel unwiderruflich als emotionales Tief in euer Hirn brennen wird. Die gewählten Musikstücke in den emotionalen Szenen sind wunderschön, geben jedoch aufgrund der Geschehnisse, die sie begleiten und erst wirklich zum Runterzieher machen, wenig Anlass zur Freude. Gänsehaut bekommt man dennoch. 


"Nii-chaaan!"


Fazit

Wenn man bereits Teenageralter erreicht hat und für schwerere, bedrückendere Stoffe in unterhaltsamer und exzellenter Form zugänglich ist, würde mir eigentlich kein Grund einfallen, Die letzten Glühwürmchen nicht wenigstens einmal zu sehen. Dieser Film sollte wie viele andere gute, mahnende Verarbeitungen unserer nur allzu fehlerhaften Geschichte als Menschheit in Schulen gezeigt werden, mit Sicherheit aber ist er in jeder Hinsicht sehenswert, trotz seines Alters. Als Gesamtpaket hat er den Zahn der Zeit ohne größere Probleme überstanden und wird vermutlich heute wie damals Wangen einfeuchten. Ob ihr Die letztem Glühwürmchen dabei allein oder in der Gruppe guckt ist egal, so lange jeder den Film ernst nimmt und keiner ständig hereinquatscht. 

Er verdient den Respekt und die Ruhe des Zuschauers, und zahlt diese garantiert mit einer wertvolllen, emotionalen Erfahrung zurück. Ein ganz, ganz toller Film. Seht ihn euch unbedingt an. 



8/10 Fruchtbonbons für Glühwürmchen


- Yoraiko 

























Dienstag, 25. Februar 2020

RPG-Maker-Review: Calm Falls II (2004) - Just another Silent Hill








Erstellungsjahr: 2004
Ersteller: Kelven 
Genre: Horror, Mystery, Drama
Spielzeit: Ca. 3 - 5 Stunden
Engine: RPG Maker 2000


Ein Großteil meiner bisherigen RPG-Maker-Berichte konzentriert sich auf die frühen Projekte des deutschen Szene-Moguls Kelven, was schlichtweg daran liegt, dass ich bisher vor allem Makerspiele der 2000er Jahre rezensiert habe - Und diese WURDEN nun mal vollständig von Kelven dominiert. Kelven, der einst so viele, zumindest grundsätzlich hochqualitative Spiele in seiner Freizeit veröffentlichte, dass die 'Makersklaven' die er im Keller haben müsse zu einem Vorreiter deutscher Internetmemes wurden, wenn auch nur in der Blase der Makercommunity. 

Ein solches Projekt ist auch Calm Falls II, welches zu unrecht den Anschein erweckt, ein Nachfolger zu sein - Calm Falls, im übrigen das zweite Projekt von Kelven nach 'Die Bücher Luzifers', war in sich abgeschlossen, technisch, spielerisch und optisch unglaublich rückständig selbst für die damalige Zeit und hatte inhaltlich nicht viel mit Calm Falls II gemein abgesehen davon, dass beide Spiele zu einem fragwürdigen Maß von Silent Hill inspiriert sind. 

Callm Falls II also funktionierte und funktioniert unabhängig von seinem Vorgänger und war für viele Spieler auch der erste beider Teile, der konsummiert wurde. Mir ging es genau so, und da dieses Projekt im Gegensatz zum Erstling auch etwas besser gealtert ist, habe ich es zuletzt, 16 Jahre nach seiner Veröffentlichung, nochmal durchgespielt um etwas darüber zu schreiben und zu überprüfen, ob man Calm Falls II heutzutage wirklich noch spielen kann. Nun ja, sagen wir mal so, können heißt nicht müssen.


Es sei gleich mal gesagt: Wer mit der Silent Hill-Reihe vertraut ist, der bekommt hier genau das: Eine Silent Hill-Kopie mit leicht veränderter, nicht besonders komplexer Geschichte und hauchdünnen Charakteren, die eigentlich nur Plotfunktionen darstellen. Der überschaubare Soundtrack ist entsprechend auch gleich aus diesen Spielen gerippt und die 'Andere Welt' in Calm Falls ist ein erschreckend identisches Abbild jener ikonischen, von Blut, rostigen Wänden und obskuren Gestalten durchzogenen Welt, welche die Silent Hill-Reihe kreierte. Wenn man diese Reihe und diese Art Spiel mag, bekommt man hier einen äußerst simplen, kurzweiligen 2D-Abgleger, der im Großen und Ganzen keinem weh tut - Tatsächlich aber fast ausschließlich über Nostalgie funktioniert.


Denn so wirklich gut ist eigentlich nichts in Calm Falls II - Egal in welchen Bereich man guckt, egal wie weit man im Spiel fortschreitet, es will sich keine Befriedigung einstellen. Das Gameplay ist hohl und uninspiriert, die Dialoge geistlose Abzüge staubiger Thriller-Romane und die Grafik bestenfalls zufriedenstellend, trotz selbstgemachter Zeichnungen, Grafiken und eigenem Menü. Und man muss es eben verzeihen können, dass absolut gar nichts übrig bleibt, wenn man alle aus Silent Hill geklauten Elemente entfernt.


Für Nostalgiker oder RPG-Maker-Veteranen kommt jetzt aber die interessante oder bekannte Anekdote: Damals wusste ich all das nicht. 




Calm Falls II ereichte mich als Kind wie so viele Abkömmlinge der deutschen Makercommunity damals über die Bravo Screenfun - Ich war vielleicht zehn Jahre alt. Silent Hill so wie der RPG Maker waren mir vollkommen unbekannt. Darum störten mich die Parallelen keineswegs. Darum habe ich die krude Technik nicht verstanden sondern war fasziniert vom Horror und der Geschichte. 

Je mehr man beim Spielen von CFII darüber nachdenkt, wie die Technik des Tools funktioniert, desto alberner wirken manche der als kleine Höhepunkte inszenierte Bosskämpfe weil man mittlerweile weiß, mit welcher Route das Monster einen verfolgt oder wie man es ganz leicht austricksen kann. 

Musikalisch fiel mir vor allem auf, dass in der gesamten Stadt immerzu das selbe, eine Silent Hill-Stück spielt, das aber
glücklicherweise so zurückhaltend und verträglich ist, dass es einen nie stört. Überhaupt ist die Umgebung unglaublich leblos - Man merkt dem Spiel sein Alter an. Nirgengdwo bewegt sich etwas, es gibt keine Soundeffekte, keinen Wind, keine Tiere und schon gar keine Menschen, die Kleinstadt Calm Falls wirkt unglaublich tot und vielleicht hilft das der Geschichte auch, aber es fühlt sich alles sehr rückständig an. Die Dialoge sind wie gesagt so sporadisch gehalten, dass sie immer nur das Allernötigste beinhalten und jedwede Gefühlsregungen oder gar eine Charakterisierung unseres Protagonisten Dave Sherlington bleiben aus. 

Interessant für mich war ein Phänomen, das denke ich viele Spieler, die in den 80ern und 90ern aufgewachsen und mit alten RPGs in Berührung gekommen sind nachvollziehen können: Calm Falls II ist überraschend kurz. Ich habe immer mal Abends reingespielt und war nach einer knappen Wochen durch, das hatte ich anders in Erinnerung. Warum? Weil ich damals mit den spielerisch überaus simplen gänzlich unproblematischen Bossen länger zu kämpfen hatte, weil ich mir mehr Zeit nahm die leeren Gebiete anzustarren, weil alles so viel ominöser war.

Spielt man Calm Falls II an einem Stück durch, spielt man vielleicht 3-4 Stunden daran. Das Spiel ist kurz und das ist angesichts seiner Qualität sicher auch gut so.

Das Gameplay kurz zusammengefasst: Ihr geht von Punkt A nach B, sprecht mit Personen und müsst in verschiedene Orte eindringen. Diese Orte werden immer von kleinen Hindernissen blockiert, die man lustigerweise anders aus dem Weg schafft als in den meisten RPGs: Während man meistens kombinieren, finden oder herstellen muss, geht man hier - Kein Scherz! in einen von zwei Läden, um sämtliche Werkzeuge und Geräte einfach mit Dave Sherlingtons anscheinend dicker Geldbörse zu kaufen, die man braucht. Okay Kelven, warum nicht? Ebenso amüsant ist der explizite Hinweis am Anfang des Spiels, dass man Gegenstände im Menü selbst verwenden muss und dies an den Stellen nicht automatisch passiert - "Das ist Gameplay,
keine umständliche Gängelung!". Nicht zuletzt bemerkenswert, weil die Itemsan willkürlichen Stellen im Spiel eben doch automatisch eingesetzt werden. Tja, so war das damals...



Abschließend möchte ich eigentlich nur noch zwei Dinge zur Story sagen: 
Einmal, es gibt gewisse Dinge die ein Autor niemals, unter gar keinen Umständen tun darf. Eine davon ist, dass der Protagonist wichtige Informationen für die Handlung durch Zufall findet.

Wie es der Kelven so wollte, passiert es vier oder fünf Mal in Calm Falls II, das Dave übereinen Zeitungsartikeloder Ähnliches auf einer Straße (!!!) stößt, der ihn voran bringt. Man könnte darüber mit neuzeitlichem Entsetzen über die damalige Entwicklung den Kopf schütteln aber wenn man gaaaaaaaaanz großzügig ist könnte man das auch als gewolltes Plot-Device auslegen, das auf den Twist am Ende hinarbeitet.



Als Kind war ichd avon absolut geflasht. Ich habe es nicht kommen sehen, auch wenn die Art solcher Plots ebenso im Silent Hill-Universum beheimatet war. Und seltsamerweise,
obwohl man als Spieler so gut wie keine Verbindung zu Protagonist Dave Sherlington aufbaut, tat er mir damals in der letzten Szene unglaublich leid und das hat mich wirklich für Wochen beschäftigt - Die Erinnerung an diese Szene hat mich nie verlassen. Sie blieb mir irgendwie immer im Kopf, obwohl sie so extrem minimalistisch ist. Auch diesmal bekam ich wieder eine leichte Gänsehaut, es ist einfach die tragisch-triste, psychologische Komponente, die Kelven hier am Ende verbaut hat und die kaum ein Happy End zulässt - Ein Konzept, das auf eigentlich jede Art von Geschichte anwendbar ist und deswegen auch funktioniert hat.



Fun Fact: Der Game Over-Screen ergibt mit der Auflösung im Hinterkopf auch befriedigend viel Sinn.


Fazit

Calm Falls 2 ist ein Projekt für Nostalgiker und Retro-Horrorfans mit ein paar Stunden Zeit für ein schrulliges Silent Hill-Fanprojekt. Optisch nicht besonders gut gealtert hat Kelven zumindest mit einigen netten Effekten, hübschen Splatter-Grafiken und solider Umgebung dafür gesorgt, dass das Spiel nicht hässlich ist, musikalisch wird man effektiv in die frühen 2000er zurückversetzt und spielerisch... gibt es keinerlei Anspruch. Ihr lauft herum, drückt Knöpfchen, lauft vor Monstern weg. Und dürft immerhin in diesr Reihenfolge mit Brechstange, Messer, Axt, Morgenstern, Sense und Kettensäge kämpfen - Wuu, cool! Ob man als makerfremder Horror-, oder Pixelfan jetzt unbedingt dieses Werk von Kelven betrachten muss? Das glaube ich eher nicht. Wer das Projekt von damals kannte oder alle Werke Kelvens spielen möchte, der kann durchaus nochmal reinschnuppern. Alle anderen beginnen vielleicht doch lieber mit den besseren Horrorausflügen Kelvens wie etwa 'Alice'. 



5/10 Hautklumpen für Calm Falls II

- Yoraiko 



Samstag, 22. Februar 2020

Cartoon-Review: Star vs. the Forces of Evil Staffel 1 - 3: Überambitionierte Kariesbombe




I think Earth is a pretty fucked-up place
And that says something 'cause I've been through out of 
schpace
I think it sucks mate, but it's just mah sta-hyle
I think I'm gonna gay a little while

I think that rapists are just friends you haven't met
I'm doing monsters and I never break a sweat
I'm really thinking I could call this place pure hell! 


Ach ja, Star vs. the Forces of Evil. Die von 2015 bis 2019 gelaufene Disneyserie, die in meiner Wahrnehmung alle Erkennungsmuster eines 'klassischen Cartoons' in sich vereint - wenn ich das Wort Cartoon höre, dann denke ich an so etwas wie Star vs the Forces of Evil. Viele westliche Animationsserien haben sich davon mittlerweile gelöst: Avatar ist beinahe seit Entstehung als westlicher Anime etabliert, das französische Wakfu hat sich genau das noch mehr auf die Fahne geschrieben, Miraculous Ladybug ist zu selbstbewusster Luxus-Trash, My little Pony ist ein Erwachsenen-Phänomen, RWBY eine Serie die eher an Ältere gerichtet ist... aber Star vs. the Forces of Evil? Das ist Core-Cartoon. Hauptzielgruppe Kinder und Heranwachsende. Eine ganz typische Zeichentrickserie, die man vielleicht mal beim Durchzeppen im Fernsehen entdeckt. 

Jetzt, da das gesagt ist, sollte man natürlich nicht außer Acht lassen, dass Star zwar als massenkompatibler Wohlfühl-Cartoon konzipiert wurde und funktioniert, durchaus aber darüber hinaus geht und kein reiner 'Kindercartoon' ist wie man es über eindeutig festgelegte Serien wie PAWPatrol,
Phineas and Ferb, Teen Titans GO oder Ninjago sagen würde - Die Qualität all dieser genannten Shows ist auch ungleich niedriger. Nein, Star vs. the Forces of Evil mag auf den ersten Blick anspruchslos, bunt und kindlich wirken, entfaltet aber im Laufe seiner Staffeln durchaus das Potential, ältere und erwachsene Zuschauer zu unterhalten und mit seiner überraschend-gut ausgearbeiteten Welt und Lore zu fesseln. Tatsachen, die ich nie festgestellt hätte, wenn mein begeisterter Freund mich nicht zu dieser Serie gebracht hätte. Umso trauriger ist es, dass die Serie dieses Potential in meinen Augen nur teilweise ausnutzt. Nachdem ich nun drei von vier Staffeln beendet habe wird es Zeit, ein Zwischenfazit zu ziehen. Ich muss und werde dazu explizit sagen, dass dieses Review nicht immer im Konjunktiv geschrieben steht, aber dennoch vollkommen subjektiv ist - Ich weiß, dass besagter Freund zu vielen hier genannten Punkten anders steht, wie sicher auch andere Fans. Behaltet das im Hinterkopf. Weitestgehend spoilerfrei


Nur Unterhaltung

Mir war bereits in Staffel 1 klar, dass diese Serie für mich wahrscheinlich nie mehr sein wird als kurzlebige Unterhaltung - und ich sollte recht behalten. Star ist eine hyperaktive, adrenalinübergossene, knallbunte, spritzige und viel, viel zu schnelle Bonbonkiste, in der aller zwei Sekunden etwas explodiert, alle Personen um 20 % schneller sprechen als sie müssten und am laufenden Band Gags abgefeuert werden. Humor steht hier vor allem während der ersten Staffel im Vordergrund. Das ist weniger wertend gemeint als es klingt: Eine pure Unterhaltungsschow zum Fallenlassen und Genießen ist eine nette Abwechslung und vermutlich genau das, was die Zielgruppe braucht. Doch natürlich gibt es noch andere Gründe, die Star das große Rampenlicht meiner Meinung nach verwehren als das extrem hohe Tempo und die über allem liegende Zuckerschicht an die man sich wirklich erst gewöhnen muss. 


Um zu verstehen, was ich mit 'nur' Unterhaltung meine, muss ich Gegenbeispiele aufzählen: Am Ehesten für vergleichbar mit Star halte ich Steven Universe, da es meines Erachtens sehr viele Parallelen zwischen beiden Serien gibt, Steven Universe aber in jeder Hinsicht den überlegenen Cartoon darstellt. In den vier Staffeln von Steven Universe bin ich mit Charakteren warm geworden und zusammengewachsen, die ich anfangs noch albern fand. Ihre Gefühle, Schicksale und Probleme interessierten mich. Bereits in Staffel 1 gab es dramaturgische Höhepunkte, spannende Momente, unheimlich witzige Gags und tolle Storyentwicklungen. Im Verlauf der abgeschlossenen Serie sind es VOR ALLEM die Charaktere und die Welt des Cartoons, die mich fesseln. Ähnlich ist es bei Avatar, Wakfu, RWBY oder der Tangled-Serie. Bedauerlicherweise kann ich nichts von alldem über Star behaupten: Der Serie fehlt all das schlichtweg, zumindest ist das meine Wahrnehmung. In Staffel 1 leidet Star unter dem selben Problem, das Steven Universe' größten Schwachpunkt darstellt: Bewohnerfolgen. Also Episoden, die sich nicht mit den Fantasy-Aspekten bzw. der übergeordneten Handlung beider Serien, sondern mit menschlichen Nebencharakteren der Nachbarschaft beschäftigen. Diese Folgen dienen freilich dazu, Hauptcharaktere besser auszuarbeiten und die Welt lebendiger zu gestalten, aber ganz ehrlich: Niemand interessiert sich dafür. Wenn ich eine Serie für ihre Fantasy-Aspekte sehe, die Hauptcharaktere verfolge und mich die Geschichte interessiert, bin ich wenig offen dafür, drei Episoden lang zuzusehen wie Star ihrem Alibi-Crush in der Schule hinterherläuft, anderen Schülern bei ihren Beauty-Problemen hilft oder die monströse Klassenlehrerin/Insert Miss Finster zu ihrer wahren Liebe führt. Solche Banalitäten interessieren einfach keinen Mensch und sind noch nicht mal sonderlich unterhaltsam geraten, weder bei Steven Universe noch hier. Doch während ich die Bewohnerfolgen dort einfach übersprungen habe, sah ich hier jede Einzelne davon und bereute es meistens entsprechend.



In späteren Staffeln geht die Serie - Das ist ein positiver Punkt und darum ein großes Lob - weg von diesem Setting, wechselt den Hauptschauplatz und wird von da an auch mehr 'Magical Fantasy' - Eine angenehme Entwicklung, die aber nicht über die Flachheit der Story hinwegtäuschen kann. Im gesamten Charaktercast von Star vs. the Forces of Evil gab es in drei Staffeln niemanden, den ich sonderlich sympathisch fand, mit dem ich mitfühlen konnte oder den ich gar mochte. In Steven Universe war es jeder Zweite. Protagonistin Star, die in den ersten Episoden als nur schwer erträgliches Energiebündel auftritt, und vermutlich in jeden Tag mit einem schönen Kokain-Zucker-Milschshake startet, wird später ruhiger, geringfügig reifer und weniger nervig. Das ist eine subtile aber coole Entwicklung. Ihr Sidekick Marco dagegen macht keine spürbare Entwicklung und Veränderung seines Charakters durch, zumindest keine die ihn nachhaltig verändern und sich in Taten niederschlagen würde. Was mir persönlich sehr, sehr sauer aufgestoßen ist, ist eine bestimmte Entwicklung zwischen den beiden Hauptcharakteren, da diese für mich die erwartbarste, langweiligste und abgedroschenste Wendung in einem Cartoon mit Junge und Mädchen überhaupt darstellt und es vorher wirklich, wirklich viel bessere Alternativen gab, auf die hingearbeitet wurde. Jedes Mal, wenn die Serie diese Chemie zwischen Star und Marco in den Fokus stellt, drehen sich mir die veganen Donuts im Magen um. Pfui. Der Rest des Castes ist in Hinsicht Entwicklung fast nicht der Rede wert. Der erste, große Antagonist Ludo, ein kleiner Monstervogelmensch, der eine Donald Ducksche Tollpatschigkeit an den Tag legt, verändert sich im Laufe der Serie hingegen durchaus mehrmals stark und nimmt verschiedene Extreme an - Blöd nur, dass mir dieser Charakter von seinem ersten bis zu seinem letzten Auftritt derartig egal war, dass mich das kaum juckte. Er nervte mich nicht wirklich, nein - er war mir einfach nur egal. Sobald das Setting dem Fantasy näher ist, gibt es durchaus auch mal einen Nebencharakter, den man gerne öfters sieht. Ich nenne hier Namen wie Hekapoo, Eclipsa oder... ich hab überlegt und recherschiert, aber mir fällt kein Dritter ein. Verflixt. Einige Charaktere hingegen gehen von Anfang bis Ende darin auf, unerträgliche Nervbeutel zu sein, welche die Netzhaut des Zuschauers mit jedem Auftritt auf eine harte Zerreissprobe stellen. Ich sehe euch an, Ponyhead, Glozaryck. Aber das ist eben auch etwas, das komplett subjektiv ausfällt - ich kann nur sagen, dass mir der Charactercast von Star vs. the Forces of Evil als größtenteils uninspiriert, altbacken und flach erscheint. Hat man alles schon gesehen. Ist eben nonsense.

Es gibt noch einige postive Ausnahmen, über die ich etwas mehr schreiben kann, aber das dann weiter unten in der Pro-Sparte.

Eine lose Fantasy-Handlung wie bei Steven Universe gibt es hier (später) auch, nur wollte diese bei mir nie so recht einschlagen: Es bereitete meinem Freund weit mehr als nur einmal graue Haare festzustellen, dass ich teilweise die Ereignisse der allerletzten Folge wieder komplett vergessen hatte, als wir die Nächste sahen. Auch Ereignisse der ersten beiden Staffeln waren in meinem Gedächtnis vollkommen verschwunden, als wir die Dritte begannen. Seiner Meinung nach wichtige Plotpunkte, Charakterentwicklungen und Verstrickungen sind bei mir einfach hier rein und dort raus gegangen. Ich vergaß ständig, was eigentlich zuletzt passiert war. Vielleicht ist das der Grund, dass die mit steigender Folgenzahl zunehmenden, dramatischen Konflikte, Kämpfe und Außeinandersetzugen mich nie fesseln konnten - Für mich kam in Star zu keinem Zeitpunkt ein Gefühl von Spannung auf, wenn die Serie es von mir wollte. Auch das ist grundlegend anders in Steven Universe. Die Handlungen gehen von Staffel zu Staffel tiefer, sind in vierlei Belang großartig teilweise schon Staffeln zuvor geforeshadowed, die Serie guckt und fühlt sich in S3 GANZ anders als in S1 an, all das erkenne ich: Dennoch zucke ich bei der Handlung von Star vs. the Forces of Evil noch immer mit den Schultern und komme zu dem Schluss, dass man diese Serie eher nicht für seine Konsistenz anschaut - sondern für den soliden Unterhaltungswert, der kontinuierlich mit jeder Staffel steigt und auch schon in Staffel 1 ausreicht, wenn man sich an das hohe Tempo gewöhnen kann oder es vielleicht sogar schätzt.

Ist das meine Schuld?

Ist es meine Schuld, dass ich ständig alles vergesse, mit keinem der Charaktere mitfühlen kann, mir tragische Schicksale verschiedener Personen am Popo vorbeigehen und ich keine Spannung empfinde? Wer weiß. Fest steht, dass all das keine bewussten Entscheidungen sind sondern Reaktionen auf das, was Star vs. the Forces of Evil in mir ausgelöst hat - oder eben nicht. Wenn eine Serie ihren Zuschauer nicht fesselt, nicht packt, nicht für ihre einzelnen Aspekte begeistern kann oder ihn auch verwirrt - dann ist das eigentlich nie die Schuld des Zuschauers, sondern immer die der Serie. Ein Schüler trägt nicht die Verantwortung für einen inkompetenten Lehrer, so lange er willens ist zu lernen. Wir gehen hier ein bisschen weit, aber ich denke, es ist klar, wo ich die Ausrichtung von Star sehe und wie der Cartoon sich anfühlt: Unterhaltsam. Wenn ihr nicht viel mehr braucht, Herzlichen Glückwunsch, diese Serie könnte etwas für euch sein! 


Hold on a minute!!

Puhh, das klingt ja doch alles irgendwie schon ganz schön deprimierend und negativ. Nichtsdestotrotz habe ich drei Staffeln davon gesehen und finde die Serie alles andere als schlecht. Wie kommts? Star vs. the Forces of Evil kann vielleicht nur unterhalten, aber das kann es gut.

Während Handlung und Charaktere am Anfang noch so äußerst gewöhnungsbedürftig erscheinen, stellt man sich im Laufe der Serie auf das Tempo ein und vor allem der Humor tendiert dazu, besser zu werden. Es sind auch schon in der ersten Staffel einige herrlich-witzige Pointen dabei und in vielen Momenten kann man analysieren, wie ein vielleicht nicht gänzlich gelungener Joke noch besser hätte sein können. Der Humor ist nun kein Schenkelklopfer-Seitenschmerz-Brecher, aber wenn er eines ist dann charmant. Verliebt habe ich mich persönlich ja vollkommen in die Laser Puppies. Verdammt, was liebe ich die Laser Puppies. Ein simpler, alberner Gag, der aber immer und immer wieder in den Episoden auftaucht und mit einer verboten-guten Mischung Niedlichkeit geparrt wird. Für die Ohren gab es dieses kleine Meisterwerk, auch bereits in S1.
10/10, in jeder Hinsicht. 
NA LOS, SINGT ALLE MIT!!



SPAAACE UNICOOORN


SOARING THROUGH THE STARSSSS


DELIVERING THE RAAAINBOWWWWS
ALL AROUND THE WOOOOOOOOOORLD~

SO PURE OF HEAAAAART

AND STRONG OF MINDDD
SO TRUE OF AIMM 
UND JETZT ALLE!!!!!!!!!!!!!!!


WITH HIS MARSHMALLOW LASER
MARSH
MALLOW
LA
SOOOOOOOOOOOOR


Ähm genau. Das waren jetzt zwei Dinge, die ich mir herausgepickt habe: Ein anderer Zuschauer mag vielleicht zehn Andere finden. Keine Sorge an dieser Front: Star ist witzig, charmant und selten, wirklich nur sehr, sehr selten langweilig.

Es gab auch noch zwei herausstechende Charaktere, die man tatsächlich positiv hervorheben muss: Das wäre zum einen der Antagonist und Echsenmensch Toffee, der nicht ganz so süß daherkommt wie sein Name es vermuten lässt.


Der Lex Luther der Cartoonwelt trägt konsequent Anzug, zeigt sich beherrscht, ruhig und zynisch und stellt damit einen vollständigen Gegenkontrast zu ausnahmslos allen und jedem Anderen in der Serie dar. Das war angenehm, ließ ihn kompetent und tatsächlich bedrohlich erscheinen - ein Charakter, den man ernst nehmen kann. So war es beinahe zu bedauern, dass er letztendlich ein recht gehetztes und äußerst unschönes Ende fand, im bis dato verstörendsten und brutalsten Moment der Serie meiner Meinung nach, die derartig grafisch ist, dass ich mich frage, wie in aller Welt man das ungeschnitten durchbekommen hat. Definitiv eine denkwürdige Szene. 

Die zweite Person ist Eclipsa, die Königin der Finsternis. Ja Mensch, die ist doch bestimmt eine von den Guten, oder?!


Seht euch diese bezaubernden Augen an. Können diese Augen lügen?! Das werde ich hier nicht vorweg nehmen. Eclipsa wird in der Serie irgendwann als Vorfahrin Stars und ehemalige Prinzessin ihres Königreiches eingeführt, die so manche dunkle Spur in der Geschichte hinterlassen hat und als verbannte Gefangene bekannt wurde. Insofern ist der Eindruck, den die Serie uns zu Anfang vermitteln möchte: Die ist böse, der darf man nicht trauen. Im Folgenden aber schlägt jeder einzelne Auftritt von ihr genau die gegenteilíge Note an: Sie als eigentlich grundsympathische, manchmal verträume und zu unrecht verachtete Dame von Welt zu charakterisieren. Diese Bemühungen erscheinen derartig krampfhaft und transparent, dass man als alter Popkultur-Hase und Durchschauer klassischer Erzählstrukturen wie ich nicht anders kann als naserümpfend zu meinen:
BULL!
SHIT!

Über ganze Wochen hinweg habe ich meinen leidgeplagten Freund immer und bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit nicht enden wollenden Variationen des Satzes 'Eclipsa is evil, I call it!' malträtiert und in komatöse Akzeptanz geschwafelt, der seinerseits natürlich keine sichtbare Reaktion zeigen durfte um mich nicht zu spoilern. Der Gute. Ich war leidenschaftlich und zweifellos davon überzeugt. Ob ich damit richtig lag, das hat das Finale der dritten Staffel vermeintlich aufgelöst. Und sei das wie es sei: Jeder Auftritt Eclipsas hat mir Spaß bereitet. Sie ist seltsam, morbide, befremdlich und trägt das Herz auf der Zunge. And still... ECLIPSA IS EVIL!!!

Das Staffelfinale der dritten Season, um es nochmal gesondert zu kommentieren, war bisher sicherlich das Stärkste, es betonte den Fantasy-Grundsatz der Serie, hatte tolle Animationen und Momente und brachte auf Twist-, und Character-Developement-Seite eben wirklich einiges zu Tage. Es ist also durchaus so, dass ich auf die abschließende Staffel gespannt bin, auf einem sehr, sehr  überschaubarem Level.

Technische Aspekte: Animationen, Design, Musik

Ich möchte auch noch kurz auf die Specs des Cartoons eingehen, denn alleine schon die Optik ist fraglos ein Extrem, ob nun gut oder schlecht. Offen gesagt werde ich nicht mal versuchen, den Zeichenstil von Star vs. the Forces of Evil als gut oder schlecht zu bezeichnen, da so etwas mehr als jeder andere Aspekt eine vom persönlichen Geschmack durchzogene Angelegenheit ist. Was ich hingegen sage ist, dass er mich zu Anfang extrem abschreckte und eben nicht so meins ist - Typischer Cartoon-Stil. Denke ich an 'Cartoon', dann denke ich an eine solche Optik. Nicht an die schiere Bildgewalt eines Avatar oder die Anime-Ästhetik eines Wakfu, sondern eben an... das. Dieses schlichte, bunte, comichafte. Wie gesagt, mein Geschmack, aber tatsächlich gewöhnt man sich an fast alles, und so störte mich der Zeichenstil alsbald nicht mehr so sehr. Frei vom Geschmack ist die Einschätzung, dass die A
nimationen in Staffel 1 über weite Teile hölzern und behelfsmäßig daherkommen, sich aber im Laufe der Serie stetig steigern und in S3 auf einem wirklich hervorragenden Niveau für diese Cartoon-Sparte bewegen. Die ganze Optik wird also wirklich besser. 
  

Die Musik ist kaum einer Rede wert - da gibt es keine besonderen Momente oder herausstechenden Stücke, an die man sich erinnern würde, abgesehen vom erwähnten Space Unicorn. Andererseits gab es auch keine unpassende Musik oder solch eine, die gestört hätte: Star wird eben mit passender Cartoonmusik untermalt die da ist. Okay.

Das Opening wirkt zunächst genau so überdreht und nichtssagend wie die Serie, wenn man es aber nicht so ernst nimmt und dazu ein bisschen selbstironisch abtanzt, hat man großen Spaß damit, in jeder Folge mehr. Eigentlich schon ein fetziger Song, doch. Und definitiv Ohrwurm-Potential über drei Staffeln. Das erste Ending ist, wie man eingangs unschwer erkennen konnte, definitiv mein Favorit, weil er in seiner Banalität und Positivität so poppig und fast schon selbstironisch ist. War schon schade, dass es nach S1 dem für meine Begriffe generischen Fantasy-Ending weichen musste, das in mir nichts auslöst.

Die Synchronisation fällt vor allem bei Star und Eclipsa positiv auf, die absurderen, emotionaleren und witzigeren Momente werden von Stars Sprecherin oft passend und wertvoll transportiert, und vor allem merkt man was für eine schöne Stimme sie eigentlich hat wenn sie mal nicht überdreht rumschreit oder sie verstellt. 

Auf Deutsch ist die Serie mal wieder unakzeptabel. Tut euch das nicht an. Das Englisch ist leicht genug um es auch als Kevin aus Chemnitz zu verstehen. 

Fazit

Star vs. the Forces of Evil würde von mir nach drei Staffeln als 'Okay' bewertet werden - Als unterhaltsamer, kleiner Cartoon für zwischendurch. Wäre ich gezwungen, diese Serie in Relation zu Größen des Mediums wie Avatar, MLP oder RWBY zu setzen, würde ich kopfschüttelnd resignieren - Ein solcher Vergleich lohnt für mich nicht, dazwischen liegen einfach qualitative Welten. Als abgespeckte, kleine Schwester von Steven Universe lasse ich Star aber durchgehen. Wer nicht allzu viel von Charakteren, epischer Handlung oder Tiefe abseits kurzlebiger Gags und Feelgood-Momenten erwartet, der hat hier sicherlich eine bunte Wundertüte unverfänglichen Spaßes gefunden. Und wer die Tiefe und Komplexität dennoch möchte, kann sie auch finden, keine Frage: Allein durch meinen begeisterten Freund weiß ich und habe mitbekommen, wie durchgeplant gewisse Storyereignisse teilweise sind, wie komplex verpflechtet so mancher Charakter und wie viel Durchdachtheit dann doch unter der rosanen Zuckerdecke steckt. Nur in der eigentlichen Serie, da habe ich davon nicht übermäßig viel mitbekommen, das mich interessieren würde. Aber so kann sich eben jeder herauspicken, was er hier mag.

Aber muss man Star vs. the Forces of Evil als Cartoon-Fan gucken? Nein... das finde ich nicht. Da sind die oben genannten Referenztitel der letzten Jahre allesamt bedeutender, geben einem mehr, können mit vielfältigeren Features aufwarten. Aber wer nicht so auf Anime steht, Steven Universe schon durch hat und was Ähnliches sucht, der kriegt hier auch was, das keinem weh tut. Kann man schon mal gucken. Warum nicht. Und wie Staffel 4 wird, das werden die folgenden Wochen mir zeigen. 



6/10 Dimensionsscheren für Star vs. the Forces of Evil S1-3

 
Yoraiko