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Montag, 19. Oktober 2020

Film-Review: Oculus (2013) - Ein Spiegel, sie zu knechten

 

 


 '"I've seen my demons - and there are many."

 

 

Oculus ist einer dieser Horrofilme, die man nur auf einem von zwei Wegen zu Gesicht bekommt: Entweder durch eine direkte Empfehlung, oder weil man zufällig über ihn stolpert. Mir ist Letzteres passiert, vor ein oder zwei Jahren, beim Stöbern in Internetportalen bin ich rein zufällig über das Cover des 2013 veröffentlichten Fast-Indie-Horrorfilms gestoßen, war interessiert, habe ihn mir angesehen. Und darüber war ich wirklich glücklich, denn 'Oculus' ist ein in vielerlei Hinsicht 'anderer' Horrorfilm, der mit beeindruckender Durchdachtheit, einem ganz eigenen Stil und intelligentem Psychoterror abseits abgetretener Pfade und billiger Jumpscares überzeugt. Dennoch ist der Film so unbekannt und findet in den meisten Bestenlisten nicht statt, was ich hauptsächlich darauf schiebe, dass 'Ocolus' sehr viel Aufmerksamkeit fordert und dadurch nicht was für jeden ist, und schon gar nicht von Fans von konventionellen Horrorfilmen wie 'IT' oder 'The Conjuring' ist, die klare Fronten haben, den Zuschauer an die Hand nehmen, leicht erkennbar in Gut und Böse unterteilen und am Ende alles aufklären. 

 

Ocolus trägt erfrischenderweise nicht die DNA des Popkorn-Horrors in sich, hat so gut wie keine Jumpscares oder dumme Teenager, es ist ein reinrassiger Psychothriller, der sowohl die handelnden Charaktere als auch uns dazu zwingt, unsere Wahrnehmung der Realität zu hinterfragen.

 

Spieglein, Spieglein an der Wand...  

Bedrohliche Spiegel sitzen in der Selbsthilfegruppe für ausgenudelte Horrorklischees gleich neben Psychoclowns, alten Herrenhäusern, Inzest-Hinterwäldlern, ausgemusterten Baby Borns, Messermördern und kamerascheuen Geistern. Regisseur Mike Flanagan gelang es mit Ocolus aber, ein einfaches Monster-Element mit einem ausgezeichneten Drehbuch zu einem verstörenden Thriller aufzubauen, der die Charaktere, die es zu bekämpfen versuchen, gegen sich selbst ausspielt. 

Tim und Kaylie Russel waren noch Kinder, als ihr Vater ihre Mutter folterte und ermordete, und Tim ihn schließlich aus Notwehr erschießen musste. Kaylie war überzeugt davon, dass all das durch den altertümlichen Spiegel ausgelöst wurde, den ihr Vater sich vor Wochen ins Büro gehangen hatte. Jetzt, viele Jahre später, wird Tim aus seiner psychatrischen Anstalt entlassen, von seiner Schwester abgeholt und auch gleich in ihren Plan eingeweiht - Den Spiegel, mit dem sie sich seit seiner Einweisung beschäftigt hat, endlich zu zerstören, und zu beweisen, dass von ihm eine übernatürliche Bedrohung ausgeht - Mittels Kameras und zahlreichen, narrensicheren Sicherheitsvorkehrungen.

 'Ocolus' findet auf zwei Zeitebenen statt

Zuerst ist da das Hier und Jetzt, in dem Kaylie ihren Bruder in das Haus ihrer Kindheit einlädt, wo sie extensive Vorbereitungen getroffen hat - Zahlreiche Alarmwecker, Kameras, Therometer, regelmäßige Anrufe, eine Guillotine(!!) an der Decke, die automatisch hinabstürzt, wenn sie nicht ständig zurückgestellt wird - um den antiken Spiegel an der Wand zu zertrümmern. Denn dieser, so zeigen es ihre historischen Recherchen und ihre Erfahrungen aus der traumatischen Kindheit, ist in der Lage in die Psyche seiner Opfer einzudringen und ihre Wahrnehmung zu manipulieren. 

Dann erleben wir die Vergangenheit - Kayle und Tim als Kinder, die in dieses Haus einziehen, und wie der Spiegel beginnt, ihre Eltern zu verändern. 


Während die Spannung der ersten Ebene vor allem dadurch entsteht, dass die Suggestin und Wahrnehmungsveränderung des Spiegels trotz aller Sicherheitsvorkehrungen der beiden Geschwister immer weitere Kreise zieht und dabei sowohl Zeit als auch Raumgefühl verschwimmen lässt, ist der Reiz der Vergangenheit, dass diese alsbald in die Gegenwart überfließt. Die Ebenen sind in der ersten Hälfte des Filmes mit guten Schnitten einigermaßen verständlich getrennt, verschmelzen aber mit zunehmender Laufzeit auf ganz hervorragende und kreative Art miteinander, so dass in manchen Szenen sowohl Vergangenheit als auch gegenwart zur selben Zeit im selben Raum stattfinden, wenige Kameraschwenke die Zeit wechseln oder die Vergangenheit-Ichs der Geschwister fließend in ihre jetzige Form übergehen. All das natürlich nur das Spiel des Spiegels, doch auf inszenatorischer Ebene genial. Das fordert Aufmerksamkeit, denn man muss im Auge behalten, was Realität ist und was vielleicht nicht, in welcher Zeitebene man sich gerade befindet und wo die Zusammenhänge bestehen. Man könnte noch mehr darüber sprechen, wie wohldurchdacht das Script des Regisseurs ist und wie intelligent der Horror und die Psyche in Oculus funktioniert, aber da will ich eigentlich nicht zu viel verraten. Es ist ein intellektuelles Gruselerlebnis, das in die Kerbe ähnlicher Indiefilme wie etwa 'Coherence' schlägt. 


Das Ende mag fast von Anfang des Filmes an vorhersehbar gewesen sein, verliert durch diese Tatsache aber nicht viel an emotionalem Impakt, welcher die verstörende Abschlussszene ausmacht. Auch hier eine Besonderheit im Horrorgenre - Das Finale bleibt noch länger im Sinn. Und es ist wie der Rest des Filmes hervorragend durchdacht, doch hier zu viel zu sagen wäre fatal. 

 

 

Die Szenenbilder sind hochwertig, die Musik atmosphärisch, die Schauspieler sind gut gewählt, vor allem Karen Gillan als Kaylie überzeugt auf ganzer Linie als das zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Trauer und Hass gefangene Kind, auch wenn ihr schottischer Akzent in der englischen Synchronisation dann und wann durchbricht. 



Fazit



Was ist real? Wann ist jetzt? Was ist Täuschung? Wo ist hier? Diese Fragen stellen sich nicht nur die Charaktere in Oculus permanent, sie werden an den Zuschauer weitergegeben, der hier von Anfang bis Ende aktiv zum Mitdenken angeregt wird in einem betont-kreativen, verstörenden und verworrenem Psychothriller, der sich nicht mit plumpen Jumpscares und abgestandenen Gruselklischees aus der Mottenkiste aufhält, sondern sehr schnell dazu übergeht, die erzählerischen Ebenen im Film außeinanderfallen zu lassen. Wie dabei im späteren Verlauf Zeit und Raum miteinander verschwimmen und sich gegenseitig scheinbar beeinflussen gehört mit zu der spannendsten Inszenierung des Genres und ist etwas, das man so nicht in anderen Horrorfilmen zu sehen bekommt.

Oculus ist konsequent bis zum Schluss, und auch für zartbesaitetere Zuschauer geeignet - Die Gewaltdarstellung hält sich in Grenzen, trotz mancher wirklich harter Szene, die an die Nerven geht. 

Zu empfehlen ist im übrigen auch der Kurzfilm des Regisseurs, auf dem Oculus basiert. Das Konzept und die Machart lassen sich bereits gut verfolgen und ergeben in der Summe eine spannende halbe Stunde. 



8 von 10 Guillotinen für Oculus




 

- Yoraiko

 

 

 

 

Sonntag, 13. September 2020

Filmreview: Spirit (2002) - Müssen Filme immer zynisch sein?

 



Unsere heutige Welt ist geprägt von bitterem Zynismus. Man findet ihn, ob gewollt oder nicht, in allem und jedem das wir tun und produzieren, und so kann sich auch kaum ein Film davon frei machen. Selbst wenn man zum traditionellen Familienkino Disney geht, findet man in den allermeisten Werken immer diese fahle, unvermeidbare Spur Grausamkeit. Der König der Löwen beginnt mit Verrat und Vatermord. In Bambi wird dem kleinen Reh erst mal die Mutter weggeschossen. In Schneewittchen wird die Prinzessin ausgestoßen und muss wegen ihrem Aussehen mehrere Mordanschläge hinnehmen. In Rapunzel wird das Mädchen in einem Turm festgehalten und als buchstäbliche Verjüngungscreme ausgequetscht. In der Eiskönigin gerät das naive Mädchen an einen Heiratsschwindler, der die ganze Familie auslöschen will. In Zootopia wird die eine Hälfte der Tiere auf Drogen gesetzt, um die andere Hälfte zu zerfleischen.

 

So bunt, unschuldig und kinderfreundlich, wie immer gesagt wird, ist Disney dann also doch gar nicht. Zynismus und frustrierender Realismus in jedem einzigen Film. Aber so wollen wir es ja auch - wir sind zynisch geworden, sei es durch den Lauf der Welt (Wer weiß das besser als das Jahr 2020?) unser zunehmendes Alter oder unsere eigene Miserablität. Ich selbst mehr als andere definiere mich komplett über den Spott, die Ironie und die Abschätzigkeit, mit der ich allem popkulturellen begegne, nichts tuei ich lieber, als einem adretten Animationsfilm seine Klischees und leeren Versprechungen mit einem hämischen Vorschlaghammer in tausend Stücke zu zersprengen. Ich bin geprägt von Negativität und Misstrauen. 

 

So bin ich Spirit - Der wilde Mustang, welches zwar von Dreamworks produziert wurde, vom Ersteindruck aber in eine sehr ähnliche Richtung wie Disney geht, auf meiner Watchlist mit wenig Enthusiasmus begegnet. Der visuelle, etwas in die Jahre gekommene Stil schreckte mich ab, und wie spannend konnte schon ein Film über Pferde sein? Wahrscheinlich würde der Plot nur die üblichen zwei, drei Stationen eines Kinderfilmes abhaken und das war es dann. Als ich mir Spirit dann schließlich mit disneyscher Erwartungshaltung einer theoretischen Enttäuschung eines Abends angesehen habe, wurde ich vollkommen überrascht. Von Anfang bis Ende hatte dieser so unscheinbare Film mich großartig unterhalten, und das - ich wollte es nicht recht glauben - ohne die allerkleinste Spur von Zynismus.


Ja, als die Credits anliefen, konnte ich nicht anders, als mit einem so positiven, lebensbejahenden und warmen Gefühl der inneren Zufriedenheit rauszugehen, dass ich wie ein Trottel grinsen musste. Das beste Wort, um Spirit zu beschreiben, existiert in Deutsch nicht: 

Wholesome.

 

 

 

Keine sprechenden Tiere

Meine Mutter hat, was Animationsfilme angeht, eine recht strenge, aber einfache Linie, was ihr unter die Augen kommen darf: Wenn Tiere sprechen, ist es Aus. Ich bin in dieser Hinsicht weniger fundamentalistisch veranlagt als sie, teile aber ihre Abneigung gegen das Phänomen, Tiere albern, comichaft und lustig zu inszenieren. Natürlich hatte ich erwartet, dass Spirit in den selben Hufnapf tritt wie fast alle anderen Tieranimationsfile vor und nach ihm, aber weit gefeht.

Der willkommene Kniff, für den man sich in diesem Film entschieden hat ist, dass KEINES der Tiere spricht, weder die hauptsächlich vorkommenden Pferde, noch Vögel oder Hunde. Stattdessen werde sämtliche Gefühle, Dialoge und Gedanken nur mit der Mimik, den Blicken und der Gestik der Pferde impliziert, und man muss zwischen den Zeilen lesen. Das funktioniert fabelhaft und sorgt dafür, dass wir die eventuellen Lücken, die entstehen, mit unseren eigenen Interpretationen auffüllen können, was die ohnehin wahnsinnig sympathischen Tiere NOCH näher zu uns bringt.

Die Ausnahme bildet Protagonist Spirit, der zumindest stellenweise im Film als Erzähler auftritt und seine Lage zusammenfasst. Und auch das hätte es ehrlich gesagt nicht gebraucht - Selbst die Erklärung am Anfang, wo und wie er aufwuchs, ergibt sich aus dem Gezeigten. Der Film hätte also wirklich vollkommen ohne Tierstimmen funktioniert, sein gelegentliches Drübersprechen stört aber auch nicht. 



 

Storytelling-Soundtrack

Die simple Handlung von Spirit besitzt neben dem Hauptcharakter und seiner Erzählung noch einen roten Faden, welcher uns seine Gedanken näherbringt und die Ereignisse verbindet - die zahlreichen, gesungenen Lieder von Bryan Adams. Der Soundtrack des Films, der im übrigen von Hans Zimmer(!!) komponiert wurde, ist so grandios und schön, kaum ein Animationsfilm hat so viele gesungene Lieder, jedes Einzelne klingt auf seine Weise toll und sie dienen sogar einer wichtigen Funktion, anstatt nur eine Gag-Compilation zu sein. Das hat Vor-, und Nachteile, und einer von Letzteren ist es, dass man diesen Film auf keinen Fall auf Deutsch gucken kann. Die Übersetzung in allen Ehren, aber allein die deutschen Lieder schänden das komplette audiovisuelle Spiriterlebnis und führen zu einem gänzlich anderen Film. Mein persönlicher Favorit ist das Creditstheme, welches eine erweiterte Version eines früher eingesetzten Liedes und das Maintheme von Spirit ist. Solch unvergessliche Musik haben heutige Animationsfilme nicht mehr.

 

 

 

Müssen Filme immer zynisch sein? 

Wir haben sie immer wieder, diese zynische Note. Am Ende vieler Disneyfilme kommt der Bösewicht auf tragische oder schreckliche Weise ums Leben. Denken wir nur an Atlantis, wo der Gauner buchstäblich in Fetzen gerissen wird, oder an den Dreamworks eigenen Shrek, in dem der König im Magen des Drachen landet. Oder aber wichtige Charaktere wie Elternfiguren der Helden sterben zu Anfang. Immer gibt es diese traurig-tragische Note von Realität und 'So ist die Welt nunmal, Kind!'. 

Aber muss das sein? Gibt es zwischen einem versöhnlichen Disneyfilm mit Kompromissen und My little Pony Zucker ist Liebesmagie nicht noch irgendeine Grauzone? Spirit ist diese schneeweiße Grauzone. Der Film schafft es wie kein zweiter seiner Art, uns von Anfang bis Ende mit jeglichem Zynismus und jedweder Tragik zu verschonen. Das Gefühl von Freiheit, vom ungebrochenen Willen des Helden, dieses grenzenlose Gefühl von Hoffnung und dass es immer weitergeht, springt hier wie ein Virus auf den Zuschauer über, wenn Spirit mit dem Wind in der Mähne über endlose Weiden gallopiert, garstige Wilderer an der Nase herumführt oder einen Indianerjungen der ihn unbedingt zähmen möchte neckisch auf Abstand hält. Weder stirbt hier die Mutter des Helden, noch irgendeine andere Figur im Film. Es wird angedeutet, es passieren so manchem Charakter schlimme Dinge, und ich habe mich dabei erwischt wie es mir ehrlich im Herzen weh tat. Aber am Ende des Tages konnte ich aufatmen und mich - total verrückt - mindestens genau so sehr wie Spirit lachend darüber freuen, wenn dann doch jeder überlebt hat und alles gut wird. 

Der Antagonist des Filmes, seines Zeichens resoluter Colonel eines amerikanischen Forts in der Präerie, versucht die ganze Zeit lang, Spirit zu zähmen, ihn zu brechen und ihm Gehorsam zu lehren. Er ist nicht böse, und als es am Ende zum Showdown zwischen den beiden kommt, gibt es einen gewaltlosen, so befreiend-befriedigenden Moment von wahrem R E S P E K T zwischen zwei Männern, den ich so auch noch nicht erlebt habe. Kein Zynismus, nur ACHTUNG voreinander zwischen Held und 'Schurke'. 

 

Am Ende der kurzweiligen 80 Minuten haben die Helden nichts verloren, aber viel gewonnen, mussten keine Untaten begehen und nichts opfern, müssen über keine Verluste hinwegkommen und keine Kompromisse für ihr zukünftiges Leben eingehen - sie sind zusammen, frei und bald schon wieder Zuhause. Hier in diesem 18 Jahre alten Film wurde eine so zutiefst positive, rundum sympathische Botschaft geschnürt, dass es sogar einem so zynismus-zerfressenem Arschloch wie mir einfach unmöglich war, bei den Credits nicht übers ganze Gesicht zu grinsen und für ein paar Minuten einfach mal ehrlich fröhlich zu sein.  




Send Pferdenudes pls

Auch in diesem Film kommen wir nicht um die unvermeidbare Romanze drumherum, aber ich kann mit Frohsinn verkünden, dass auch diese so geschmeidig-weich wie der Rest des Streifens abläuft. Die Indianerstute 'Rain' hat ein freches, verspieltes und offenherziges Verhältnis zu Spirit, der von ihrem Besitzer 'Little Creek' gezähmt werden soll. Verdammt, es gibt hier schon genug Superlativen, aber diese Stute ist einer der sympathischsten weiblichen Charaktere eines westlichen Animationsfilms den ich kenne, und sie nervt kein bisschen. Was vielleicht auch daran liegt, dass sie nicht spricht, weil man sich dann vermutlich wieder kesse Sprüche anhören müsste, die irgend ein Schreiber eingebaut hat, um ein Statement für Emanzipation abzugeben. Nichts dergleichen, stattdessen ein Pärchen, das so herrlich miteinander harmoniert, dass man ihm alle Hufe drückt. 

 

Und mal ganz unter uns, guckt euch diese Stute an...

 

Ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll, dass sie die fleckenmaskentragende Rain derartig hübsch und begehrenswert gemacht haben, aber ich meine... das ist das fuckabelste Pferd, das ich je gesehen habe... ICH MEINE, SEHT EUCH DOCH MAL DIESEN SCHLAFZIMMERBLICK AN. (Hoffentlich lesen hier keine Kinder mit...)

 

 

 

 

 

Fazit - Film statt Antidepressivum

Man könnte meinen, Zynismus und eine tragische Spannungskurve müssen heutzutage in jedem Film enthalten sein, auch in denen für Kinder. Spirit hat 2002 gezeigt, dass es auch ohne geht. Natürlich existiert auch hier eine Dramaturgie, die die Charaktere beutelt und bedrückende Momente mit sich bringt, aber jeder Einzelne davon wird auf eine befriedigende, pur-positive Weise aufgelöst, ohne über sprichwörtliche oder buchstäbliche Leichen zu gehen. Keine sterbenden Bösewichte, keine toten Eltern, keine 'Das Leben ist nicht Schwarzweiß'-Moral. Nur Positivität und das Gefühl von Freiheit, Liebe und neuen Chancen, in Form von stummen Pferden. Es ist kriminell, wie gnadenlos Spirit untergegangen und heute kaum noch ein Begriff ist, weil dieser Film meines Erachtens nach eine ganz wunderbare Depressions-Therapie ist, oder zumindest das Gegenmittel für einen schlechten Tag. Wenn ich gerade richtig schlechte Laune habe oder mal wieder die ganze Welt verfluche, dann lege ich Spirit ein, lasse mich von der fantastischen Musik, den charmanten Charakteren und der honigmilden Weltsicht wieder aufbauen.

 

Manchmal tut es auch gut, einfach nur zu Lächeln, wisst ihr?

 

 

 

  9 von 10 Federn für Spirit
-> Du machst Yoraiko glücklich!







- Yoraiko


 

 

 

 

 

 

Donnerstag, 27. August 2020

Movie-Review: Utoya 22. Juli - Painful Realism

 

 

On July 22, 2011, the norwegian right-wing extremist Anders Behring Breivik detonated a car bomb in the center of the capital Oslo, which killed several people and injured some others. Two hours later, armed with an automatic rifle, he entered the nearby island of Utøya, where a youth camp was stationed, and shot 69 people there in about 90 minutes. A total of 77 people fell victim to the Breivik attacks, and more were injured and damaged for their lives. The perpetrator was arrested on the same day and is now serving his 21-year prison sentence with subsequent preventive detention.


So much for the facts. It was a terrorist attack that, at the time, made the whole european continent hold its breath, and had a sad, unique character through its brutality and abomination. If you make a film about such a relatively young, geographically in your own country located and tragic topic, it's definitely not easy, neither for the norwegian director Erik Poppe, nor for the viewer. It certainly wasn't for me, but I didn't expect that either.



The worst and best thing about this movie is that it is authentic. We follow 'protagonist' Kaja in the youth camp on the island minutes before the attack, and then all the way through it, and we always have the feeling of really being there ourselves, of experiencing and knowing how it feels and how it looks - Not an enviable feeling. But it makes this documentary film so much more terrifying. With a little more than 15 minutes, it takes exactly the right time to establish and introduce the young people of the camp together with our identification figure Kaja and her relationships. In general, the film is naturally very exhausting to watch - it 'only' lasts 93 minutes, but feels longer than two hours, not in a negative sense though. 


The escalation that takes place here with the intrusion of Breivik on the island, who disguised himself as a policeman, spoke to the young people and then started shooting at them, happens fast and messy, and completely believable. One thing is very important and appreciative to emphasize: The terrorist and mass murderer has no stage in this movie. You hardly see him appear at all for the entire length of the film, at most he flashes for a mere few seconds at a far away cliff. For me, this is the right way to portray such an event. Instead, especially towards the beginning, it is only the repeatedly booming, echoing shot noises that make both the young people and me as the viewer flinch. Rarely have I heard such realistic, terrifying shot noises in a movie. These gunshot sounds replace a direct portrayal of the Utoya July 22nd terrorist, and they are equally ominous. Especially in the first half of the film, the gunfire is accompanied by the young people's (excruciating painful) screams, whimpering, pleading, crying, despair, fear of death. No less than a sonata of horrors that all too often falls silent as soon as another shot is fired and echoes through the trees of the island. 


Just like the hiding teenagers, which behavior equals what we would do in the situation completely, we also wonder why the police, which are getting notified with numerous mobile phones, just won't arrive on the island. Without meaning to, the film has a tension curve here that makes us as observers angry and stunned - the authorities knew what was going on on the island, but they did not appear. Anyone who deals with the case will read that the authorities had great problems organizing a boat or a helicopter when the calls came in, and were rightly criticized for it later. However, that didn’t help the victims anymore.


We accompany Kaja as she looks for her sister in the chaos on the small island, tries to save other children, and finally takes refuge under the cliffs at the water's edge. I found the quiet minutes that we then get with her and another boy in their dialogue very successful in terms of the horror that one has experienced in the last forty minutes with clenched hands over the mouth. Conversations about their own dreams, a little harmless flirtation, a stupid joke. conversations the real young people of Utoya will likely have had while the noises of gunfire echoed across the island. 


Warning, this paragraph is a spoiler - in the end the movie breaks with an expectation that I almost wanted to criticize - that there is a protagonist who is safe. Such a thing didn't exist back then. And so Kaja is also shot in front of our eyes because nobody was safe on Utoya. We see a couple of teenagers being rescued by a boat driver and the movie ends. One of many volunteers who saved young people from the island at the time, and sometimes had to turn them away because their boats were too full. We receive information about the attack before the credits. There is no credit music, instead an ominous, calm flicker and the rush of the water to leave us alone with our thoughts.


This was a movie exactly like it should be about such an event. Bravo. 


There is one thing I had to think about. This horrible event back then shocked me. This movie, it terrified me. A terrible, good film that went through my core. Perhaps more so than one or two films about the Holocaust, the Middle East or September 11th. Here we have the risk of being accused of selective mourning, just like the attacks in Paris in November 2015. More people die every day around the world than in events like this, and you would only care if it happened on your doorstep. Yes and No. The thing is, be it the Holocaust or Syria - we here in Central Europe do not live in this time or in this part of the world. We didn't choose that, but we got it. Today we can no longer imagine that something like the Holocaust could happen again. That seems (luckily) completely impossible and surrealistic. And we don't live in a war zone either, and as terrible as the events in countries like Syria are, they are not here and so they don't affect us in the most literal way. But. The July 22, 2011 attacks took place in Oslo, Norway. In the heart of Europe. Literally IN our front door. Nothing could have prepared Norway or us for it, and it shows us that things like this can happen anywhere, anytime. Just a few hundred kilometers from us, a man killed 77 people. I find it perfectly understandable that we are more shocked, horrified, frightened and affected than tragic deaths in more distant parts of the world or in historical periods.


It is the morbid proximity of Oslo or Paris that makes up the alarming and dismaying effect of such attacks and this film too. 


Anyway, Utoya July 22nd was a really great film. It is informative, it is downright fatalistic and understandable, and it is difficult to bear. I don't want to see it again. But I can absolutely recommend it to anyone who can watch something like this.




8/10 candles for Utoya July 22nd


- Yoraiko  

 

 

 

 

 

 

 

 



Montag, 17. August 2020

Movie-Review: Mommy (2014) - Sometimes love is not enough

 




The french cinema has long been known for regularly devoting itself to unpleasant, intimate topics in an offensive and unadorned way, which in other countries would not even be touched with a protective suit and tweezers due to their explosiveness. Mommy has been another entry in this long list of 'Problem movies' of French origin. Problem movie is a term that is often used disparagingly by blockbuster goers, but I think of it as accurate here - Mommy is about the problems of a family, a mother and her uncontrollable son, an unstable teacher, a future that could have been. But Mommy does much more than just point out, it artistically puts its fingers in the wound of everyone who may have been or are in similar situations in his life - and for example, has a difficult relationship with his mother.


A special boy

Diane 'Die' Després is a widowed mother at the poverty line who, in addition to her search for a job, has to look after her son Steve who suffers from ADHD, who has constantly violent and uncontrollable outbursts of anger, has nowhere to integrate and is unpredictable in his behavior. No asylum wants to take him anymore, no school wants to educate him, Diane is at her wits end. When the former teacher Kyla moves into the neighborhood and establishes a relationship with Diane and Steve, the dreary everyday life of the difficult mother-son team changes for the better, and hope for normality arises. 



But for someone with such deep-seated disorders like Steve, who struggles since his birth with being different, is there ever any chance for a normal life?



Steve loves his mother. And Diane loves her son. As often as the two of them yell at each other in their quarrels, verbally abuse each other and physically attack each other, it is just as obvious how important they are to each other. A mother's love is an incredibly complex thing, I've heard, and is put through a lot of trials in Mommy. As viewers, we are very close to the dirty, bleak everyday life of Diane and Steve, experiencing incessantly how she tries to raise her son and somehow give him a sense of reason. And Steve, for his part, of course, tries to do the right thing. To be a good son. Who wouldn't? So he buys his mother an expensive pearl necklace to distract her from her worries for a moment. He is not very enthusiastic when Diane is convinced that the necklace has been stolen and that Steve must bring it back immediately. The matter ends in an outburst of anger and a violent argument between the two. The scene is all too symptomatic for the movie.  



Both the role of the overwhelmed mother, who tries everything to give her child a future after all, and that of the self-destructive Steve, who doesn’t know and doesn't want to know any limits, are played so convincingly that some of the scenes might as well be recordings from the living room of a real family in crisis - no, not the amateur actors from boulevard TV, real people.






I saw this movie the second time together with my mother. I have ADHD myself and had a very, very difficult relationship with her as a teenager that often got more than just loud and dirty. The film touched me, of course, but it touched both of us very differently the second time we saw it because we saw so much of us in Diane and Steve. The lump in the throat for people who can see associations' in Mommy is immense. 



The character of neighbor and ex-teacher Kya takes on the role of the viewer to some extent, who stumbles into this completely crazy and yet so incredibly intimate duo of mother and son and becomes part of it by overcoming her own insecurity, showing Steve his limits and giving Diane a long-needed friend. The three characters grow together and that's both beautiful and tragic to watch. 





Unpleasantly beautiful


We experience all of this through the extremely unusual camera perspective 1:1, which shrinks the screen into a narrow square. This is a perspective through which we perceive the emotions of the characters even more focused and undisturbed, as the director had intended it.

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The movie has mainly two dominant colors, amber yellow and cold blue. How exactly these are used should be almost obvious. And that together with the 1:1 screen are only two aspects of a movie that has so much to offer visually. Mommy is uncomfortable. From start to finish, you could hardly watch a more uncomfortable, strenuous family drama than this film. The fact that it nonetheless works so well, is visually impressive and gives you goosebumps in your arms is due to the excellent dialogues and the effects



Probably the greatest moment in the movie for me is - spoiler passage -  the Scene in which Steve - accompanied by the really ingenious used 'Wonderwall’ - drives down a street on his skateboard' and pushes the camera perspective apart with his hands so that we finally have a 16:9 screen. Along with the scream of an eagle. Not subtle, but beautiful and so, so intelligent. The perspective also shrinks and grows several times later to symbolize freedom and then again the deadlock of the family misery. I don't know much about filmmaking, but I think this is done awesomely.



A special dance scene in the middle of the film is only beautiful at first sight, maybe a bit uncomfortable considering how close Steve and Diane are here, but it contains so much. The lyrics that say no one really ever changes is sad foreshadowing. But for now, it's a moment of contentment where Diane and Steve can dance together and believe that everything will be fine one day. Kyle experiences the break of her dominating insecurity and together the three of them have a moment that is incredibly beautiful and intimate. It underlines how close Diane and her son are, how close many mothers and children in such difficult circumstances may actually be. Steve also kisses Diane on the mouth often - through his hand - and just wants to make her happy at the end of the day. Diane is overwhelmed with Steve and knows about his mistakes, but he's her son and she loves him. 



 

But sometimes love is not enough.






Bitter Reality



My mother and I had overcome our long-term, profound crisis together and found each other again, for which we are both grateful. But it doesn't always work out that way. I don't suffer from similar behavioral problems as the character of Steve, but what 'Mommy' essentially says from the very first minute is that reality does not dictate a happy ending. As a viewer, you feel with the on one hand terrible, on the other hand so loving characters, feel the wish that they can somehow manage to escape from their poverty and their hopeless future, and yet know that this will not happen. Every moment of hope Mommy offers us comes with a free dash of bitter reality. 



In one of the most impressive, dramatic and emotional sequences of realistic film dramas, accompanied by Ludovico Einaudi's wonderful 'experience', Diane - and us with her - ultimately experience a great, sad what if. How nice a normal life could have been. But it wasn't meant to be. 



This is a thought that has not only preoccupied me since, but increasingly so - am I a disappointment to my mother? Are there moments when she thinks about how it could have been if I had become something different? If I weren't as flawed as I am unfortunately? Does she think about what it would be like to have a 'better' child? I hope not, and I really try to counteract this idea every day and to live up to it in everything I do, and 'Mommy' also has supported me with that in its honesty and sensitivity to the thoughts and feelings of simple people in difficult situations.








Sometimes love is not enough. That's why you can't give up. Nobody is born to die. And just as the film ''Mommy” comes to a logical conclusion, which brings every lump in my throat and every wet burn in my eyes back every time I watch it, every viewer in a similar situation has to find their own way to endure reality and go on living. 



If you just want to enjoy the movie, you get an impressively authentic window into the desolate and arduous reality of broken families. With high-quality, audiovisual support, very, very marvelous scenes in actual run-down, ordinary surroundings, and painful, palpable emotions.








Mommy is an absolute recommendation for those who can endure really difficult but memorable and valuable movies. And it is a mandatory recommendation for individuals of doubtful happiness, who in their life and family often had to struggle with obstacles that reality held in store for them. The film can be therapeutic and enlightening, really. And if not that, then at least it is still entertaining and of high quality. Not a fun trip, but one for the heart. 






7 of 10 skateboards for Mommy







- Yoraiko























Montag, 29. Juni 2020

Film-Review: 'Systemsprenger' (2019) - Sometimes copying is not enough




Mommy ist ein französischer Film, der 2014 eine sehr unangenehme, aber auch sehr lebensnahe und emotionale Einsicht in den Alltag eines verhaltensgestörten Kindes und der schwer-belasteten Beziehung zu seiner Muttter und seiner überforderten Umwelt bot. Der Film ist nicht für ein großes Publikum bestimmt und blieb so auch nur eingeschränkt erfolgreich. 


Dass ich dies dem Review oder besser gesagt der Besprechung zum deutschen Film Systemsprenger vorausschreibe, der 2019, fünf Jahre nach Mommy, in den Kinos anlief, liegt daran, dass es sich dabei um eine weit mehr als nur inspirierte Kopie handelt. Es passiert gelegentlich, dass Filme sich reichlich bei anderen Filmen bedienen, sei es nun in Punkto Szenenkomposition, Dramatik oder einer bestimmten Idee. Auch direkte Referenzen und Nachempfindungen sind keine Seltenheit. Bei Systemsprenger liegen die Dinge aber etwas anders, denn dieser eigentlich so überaus starke Film leidet insgesamt sehr darunter, dass er Xavier Dolan's vorangegangenes Werk 'Mommy' über weite Strecken unverschämt nachahmt. Ob dies bewusst oder - wie der Tenor der Verantwortlichen lauten wird - zufällig passiert ist, sei mal dahingestellt, aber vor ALLEM die Finalszene ist fast 1:1 aus Mommy geklaut. Sollte es sich dabei um reinen Zufall handeln, so kann man Regisseurin Nora Fingscheidt dafür nur bedauern. Dennoch, ein bitterer Beigeschmack bleibt, und ich erläutere gerne, warum.


Dazu noch ein Hinweis:
Systemsprenger ist, wie jeder Filmfreund wahrscheinlich schon mitbekommen hat, ein verblüffender und gelungener Film. Sowohl Mommy als auch Systemsprenger sind fantastische Sichtungen, und ich kann beide wirklich nur wärmstens empfehlen, da auch Systemsprenger eigene Stärken innehat und näher an der deutschen Realität ist als das französische Mommy. 


Mommy ist in meinen Augen jedoch der in jeder Hinsicht bessere Film, weil er keine direkte Vorlage kopiert und Systemsprenger sich gewollt oder ungewollt an den Bestandteilen seines geistigen Vorgängers abarbeitet, diese allerdings nur platter und geistloser umsetzen kann. 



Allgemein würde ich es so zusammenfassen, dass Mommy und Systemsprenger zwei verschiedene Versionen einer eigentlich gleichen Geschichte sind, was vor allem zählt, wenn die Kopie nicht bewusst war:


'Mommy' ist die emotionale, tiefgehende, aber auch ein Stück weit von der hässlichen Neubau-Graublau-Realität losgelöste, hochwertige Filmerfahrung, die uns mehrere Personen sehr komplex mit ihren Beziehungen nahebringt und eine konsequente Geschichte erzählt. 


'Systemsprenger' ist mit dem ungleich weniger subtilen Namen die oberflächlichere, 'schockierendere'
Seherfahrung, die vor allem den Krach, die Problematik und die Frustration in den Vorgergrund drängt, deutlich weniger Zwischentöne zulässt und die Charaktere insgesamt auch vielfach flacher inszeniert. Wer das 'einfach verdaulichere' Erlebnis möchte (Und beide Filme sind unangenehm, das steht fest) und vor allem am Schock-Value interessiert ist, der guckt Systemsprenger. 



Der Teufel liegt im Aufbau


'Mommy' erzählt die Geschichte der verwitweten Mutter Diane 'Die', die ihren ADHS-geplagten Teenagersohn Steve, welcher unter extremen Stimmungsschwankungen und Gewaltausbrüchen leidet, irgendwie unter Kontrolle halten muss und dabei nicht ihre Liebe für ihn vergessen darf. 


Der Film bietet mit Steve, Diane und der Exlehrerin Kyla, welche eine Art Vertrauensperson für Steve wird, drei vielschichtige und nachvollziehbare Figuren, die innerhalb des Filmes eine Entwicklung durchlaufen und an sich wachsen. 


Dies bekommen wir mit der ungewöhnlichen aber effektiven 1:1-Kamera präsentiert, die das Bild zum eingeengten Quadrat verstellt und so direkt auf den Emotionen der Charaktere bleibt. Der Film ist durchzogen von außergewöhnlichen und erinnerungswürdigen Szenen, die ein weites Emotionsspekttrum abdecken und von Hoffnung, Frustration, Angst, Trauer, Wut und Betroffenheit alles abdecken. Es gibt viel Subtext und der Zuschauer kann und muss Ungesagtes selbst verstehen.


Das Ende ist fatalistisch und scheinbar unausweichlich, dennoch ergibt es im Kontext des erzählten vollkommen Sinn und wird auch mit Musik untermalt, die passender und ausgeklügelter nicht gewählt sein könnte. Wichtiger noch: Es kündigt sich meilenweit an und ist bitterlich erwartbar. 


Mommy zeigt und mahnt, aber Mommy erklärt auch und bietet neben seiner schonungslosen Realität auch hoffnungsvolle Kommentare zur Problematik gestörter Familienverhätlnisse. 



Dann haben wir Systemsprenger. Die neunjährige Benni wird, genau wie Steve in Mommy, von Einrichtung zu Einrichtung gereicht. Keine Wohngruppe, keine Sonderschule und kein Heim will sie noch haben, weil ihr impulsives, gewalttätiges Verhalten alles und jeden um sie herum überfordert. Sie sprengt die Möglichkeiten des Systems. Versteht ihr? Darum der Titel. Haha. Jedenfalls wird hier der Fokus vor allem auf zwei Charaktere gelegt, Benni und den Anti-Gewalt-Trainer Micha, der das Mädchen täglich zur Schule begleiten soll und auch abgesehen davon zu ihrer Vertrauensperson wird. Ihre Mutter Bianca ist Bennis hauptsächliche Motivation, Benni will zurück zu ihr nach Hause, aber diese ist überfordert und hat Angst vor ihr, spielt im Film jedoch insgesamt eine untergeordnete Rolle. Es gibt noch die persönliche Betreuerin von Benni, die wichtig für die Handlung ist, aber hauptsächlich haben wir im Gegensatz zum gut ausbalancierten Dreiergespann in Mommy hier ein ungleiches Duo, das die Handlung bestimmt. Durch diese beiden eher oberflächlichen Charaktere und die noch oberflächlicheren Nebenpersonen verliert Systemsprenger im Gegensatz zum französischen Vorbild an Tiefe. Nicht, dass die sich zu intim entwickelnde Beziehung von Benni und ihrem baldigen Wunschpapa Micha (Kein Spoiler) nicht packend und gut inszeniert ist - definitiv ist sie das! Aber ist weit weniger nahegehend als die so schwierige und doch so komplexe Liebe zwischen Die und Steve in Mommy. 


Die Charaktere machen so gut wie keine Entwicklung durch. Die Handlung schreitet nicht voran. Benni ist in den letzten zehn Minuten exakt genau da, wo sie in den ersten Zehn war, trotz der vergangenen Zeitspanne, der durchlebten Erfahrungen und dem Einfluss von Menschen, die sich um sie sorgen. Micha verändert sich noch am ehesten da ihm bald klar wird, dass Benni ihm zu nahe kommt und er seine Integrität verliert, aber das führt zu nichts und endet im Nirgendwo. Benni besitzt keine Tiefe darüber hinaus, dass sie ein gestörtes, vernachlässigtes und misshandeltes Mädchen ist, das die Welt hasst, die sie nicht versteht, und einfach nur zu ihrer Mutter will. Sie ist ein aggressives, explosives und hoffnungsloses Wutbündel.


Nach 60 Minuten Systemsprenger bemerkt man genau wie nach 40 und 30 Minuten, dass die Handlung sich im Kreis dreht und nicht vorankommt. Wir haben es verstanden - Benni passt nirgendwo rein und kann sich nicht integrieren. Benni will einfach nur geliebt werden. Mehr Aussagekraft sucht man vergebens. Hat man die ersten 20 Minuten von Systemsprenger gesehen, hat man im Wesentlichen den Film gesehen. Ich verallgemeinere hier sehr stark, aber folgt bitte der Aussage, zu der ich will:


Das Ganze ist frustrierend. 
Und das soll es auch sein.
Der Film ist noch unangenehmer anzusehen als Mommy, aber weniger im positiven Sinne, sondern wirklich anstrengend und frustrierend. Man sieht mit an, wie jeder Versuch durch jede Person, an Benni heranzukommen und aus ihrer Verkapselung zu lösen königlich scheitert. Man sieht, wie jeder kleine Fortschritt, den sie zu machen scheint, Minuten später wieder in sich zusammenfällt. Der zentrale Handlungsbogen des Filmes, ein paar Tage in einer Waldhütte mit Micha und Benni, bietet Potential, die Wende oder zumindest der Funke Hoffnung zu sein, der Systemsprenger einfach so ganz fehlt - aber nichts dergleichen passiert, stattdessen ein weiterer, gescheiterter Anlauf und ein weiteres Ticket direkt zum Startfeld zurück, gehe nicht über Los, ziehe keine 3000 ein. 

Es ist frustrierend, und das soll es auch sein. Das macht Systemsprenger bewusst und das macht es gut, so viel sei dem Film gegönnt. Das große Problem daran ist, dass das nach einiger Zeit eintönig wird. Das Konzept der unangenehmen Hilflosigkeit, die wir als Zuschauer genau wie alle Pädagogen im Film empfinden, hat man spätestens nach einer halben Stunde verstanden. Danach und daneben aber bietet Systemsprenger nichts an.


Mommy wurde deswegen trotz seiner Hässlichkeit so wunderschön und bekömmlich, weil es zwischen den Schüben hilfloser Ausweglosigkeit echte Momenter ehrlicher Hoffnung anbot. Ein Fortschritt und eine Entwicklung, den die Charaktere absolvieren, während sie ihre Probleme bekämpfen und versuchen, ein normales Leben zu erreichen. Mommy zeigt, dass auch die schwierigsten Situationen unter den schlimmsten Umständen nie ganz verloren sind und es immer einen Grund gibt, nicht aufzugeben. Systemsprenger sagt einfach nur: 


"Manchmal ist anders sein eben hoffnungslos, und niemand kann etwas dagegen tun. Das ist das Leben.


Danke, Systemsprenger. Das war jetzt wirklich hilfreich. 



Film auf Kinderschultern - Überragende Schauspielleistung
Woraus Systemsprenger vor allem seinen enormen Schauwert generiert ist die atemlos-schlagende und unglaubliche Schauspielleistung der Hauptrolle Benni, verkörpert von Helena Zengel. Wie dieses Mädchen hier die verzweifelte und selbstzerstörerische Wut, die Verletzlichkeit und Bedürftigkeit nach Zuneigung und Verständnis so wie psychische Instabilität runterspielt lässt einen das Blut in den Adern gefrieren und ist eine der besten deutschen Schauspielleistungen seit langem. Helena Zengel dürfte eine äußerst vielversprechende Karriere vor sich haben, und das ist gut für uns, weil wir dann das Glück haben, weitere Filme mit ihr erwarten zu dürfen. 




Die Rolle des Micha wird von Albrecht Schuch recht ordentlich gespielt, mit der nötigen emotionalen Zugänglichkeit für das Mädchen Benni, das ihm schneller als ihm lieb ist ans Herz wächst. 


Der Rest ist annehmbar bis akzeptabel, wenn ich das so mit Übersee-Leistungen vergleiche.



Wo ist das Ende? - 
Wie man eine Szene falsch kopiert

Die Endszene von Systemsprenger ist für mich der mit Abstand größte Kritikpunkt am Film und der Moment, als ich wirklich schlucken musste ob der Dreistigkeit dieser annähernden 1:1-Mommy-Kopie, die schon weit jenseits von inspiriert stattfindet. Spoiler für beide Filmenden voraus. 





Mommy:
- Steve wird nach langem hin und her mit seiner Mutter, die ihn letztendlich aufgegeben hat, in eine geschlossene Anstalt eingewiesen
- Er reißt sich in einem unaufmerksamen Moment der 'Wächter' los und stürmt Richtung Fenster 
- Es setzt eine signifikante und tiefgehende Musik ein, die direkt mit dem Film verbunden ist 
- Kurz bevor Steve, wie impliziert durch einen vorhergehenden Selbstmordversuch, aus dem Fenster springt, schneidet der Film ins Schwarze über. Wird er sich umbringen? Wir wissen es nicht. Aber es ist durchaus eine Möglichkeit ob der Alleingelassenheit und Ausweglosigkeit, die Steve als abgeschobener Sohn verspüren muss. 



Systemsprenger:
- Benni wird nach vielen gescheiterten Erziehungsversuchen weg von ihrer Mutter, ihrer Betreuerin und ihrem Vertrauten Micha zu einer neuen Wohngruppe gebracht, sie befindet sich an einem Flughafen. 
- Vollkommen aus dem Nichts, ohne dass es sich vorher irgendwie angekündigt hätte, dass es Sinn ergeben würde oder Benni von irgendetwas dazu getrieben wird rennt sie los, weg von ihrem neuen Betreuer, zu eintöniger Elektroudelmusik.
- Sie gelangt auf das Dach des Flughafens und springt grinsend runter, das Bild friert ein und der Film endet zu pseudobefreiender Dudelei. Benny bringt sich um, weniger subtil als in Mommy wird das hier nicht impliziert sondern mit dem Holzhammer gezeigt.


Das Schlimme an dieser Szene ist, selbst ohne die unverschämt-kackendreiste Kopie, dass sich dieser letzte Ausweg von Benni nirgendwo vorher im Film ankündigt, und schon gar nicht einfach mal so am Flughafen umgesetzt werden sollte. Der Selbstmord kommt buchstäblich aus dem Nichts. Es ist geradezu, als hätte die Regisseurin nach 2/3 des Filmes gemerkt, dass sich die Handlung im Kreis dreht und sie sich in eine Sackgasse geschrieben hat, und den Film noch irgendwie beenden muss. Und da reden wir noch gar nicht darüber, dass 'Selbstmord' für ein kleines Kind ein vollkommen abstraktes Konzept ist und es seinen Grund hat, dass Kinder sich so gut wie nie das Leben nehmen. Die instinktive Angst vor dem Tod verhindert das. Das ist kein befriedigender Abschluss, es ist ein platter Abbruch ohne jede Aussagekraft oder Berechtigung. Und der ist auch noch geklaut. Autsch.



Interessanterweise bin ich vielleicht der erste, zumindest aber einer von mindestens seltenen Beobachtern, der diesen Zusammenhang zwischen Mommy und Systemsprenger herstellt. Der Film wurde (Nicht unverdient) mit Preisen und Lob überhäuft, wird für seine schonungslose Darstellung gepriesen und wird nirgendwo als Nachahmungstäter beschrieben. Dies wird sicherlich auch daran liegen, dass Mommy nicht sonderlich bekannt ist, aber vielleicht stört die Verbindung auch einfach niemanden.

Systemsprenger ist ja auch kein schlechter Film. Man sollte nur finde ich ganz klar unterscheiden, ob man ihn als revolutionären Problemfilm bewundert oder als anständige deutsche Antwort auf ein bereits in aller Perfektion behandeltes Thema ansieht. 

Ich kann mit Letzterem gut leben, aber eben auch nur jetzt, da ich mit der fehlenden Originalität von Systemsprenger abgerechnet habe. Mut hat der Film dennoch, so etwas hierzulande so gnadenlos zu inszenieren, und es ist fraglos einer der besten deutschen Filme jüngerer Vergangenheit. Aber kein Vergleich zu Mommy.





Fazit
Wer Systemsprenger mag, wird Mommy lieben. Wer Mommy mochte, wird auch Systemsprenger nicht ächten. Am besten schaut man sich beide Filme an, denn beide verdienen es. Hätte ich nur Systemsprenger gesehen, fände ich ihn vermutlich noch ein ganzes Stück besser und das ist auch in Ordnung, der Film ist stark und in jedem Fall eine Empfehlung für Freunde des schwierigen und problembehafteten Alltagskinos. 

Wer die künstlerische Variante möchte, wirft einen Blick nach Frankreich. 


6 von 10 Hurensohnwichsarschlöcher für Systemsprenger 

- Yoraiko