Dienstag, 30. Juni 2020

Spiele-Review: Hellblade Senua's Sacrifice (2017) - Inszenierung vs. Gameplay



Wenn Autoren mit Videospielen vor allem eine Geschichte erzählen wollen, die von ihrer Inszenierung und Intensivität lebt, müssen sie sich oft kritisch mit den Grenzen oder auch Anforderungen des Mediums außeinandersetzen: David Cage und seinen 'Filmspielen', in denen wenig mehr zu tun ist als Entscheidungen zu treffen, wirft man schon seit Heavy Rain vor, es handele sich nicht um echte Spiele. Bei Telltales Walking Dead-Teilen war das ein noch präsenterer Vorwurf, und in diesem Fall auch nicht ganz zu unrecht. In anderen Fällen wird eine intensive Storytelling-Erfahrung mit minimalistischem Gameplay diniert, wenn wir uns Beispiele wie Journey, To the Moon oder Yume Nikki ansehen. Wiederum andere Storybrecher wagen einen ausgewachsenen Hybriden aus Gameplay und Sequenzen, und verlieren durch Ersteres eher an Qualität. Last of Us wäre hier zu nennen. Last of Us stellt sich aber dennoch als bestes Spiel der PS3-Generation ins Rampenlicht, und während das Gameplay nicht ideal war, reichte es für einen guten Standard. Und auch Hellbade ordnet sich in die Reihe der Spiele ein, die es vielleicht besser so konsequent wie David Cage gemacht und einfach beinahe jede Spur von Gameplay aus der Erfahrung gestrichen hätten. Anders als Last of Us zerstört sich das hochgelobte und preisgekrönte Spiel mit seinen spielerischen Aspekten jedoch vollkommen selbst und lässt einen traurig Seufzen bei der verfehlten Aufgabe, die fantastische Story ansprechend einzubetten. 


Hellblade erschien 2017 und wurde bald nach Release sowohl von Fachpresse als auch den spielern als der 'Große, neue Geheimtipp' nach Valhalla gelobt, maßstab-setzende Grafik, eine augenöffnende Inszenierung, das seltene Thema von Depression und ein wuchtiges Kampfsystem wurden dem Blockbuster-Indie-Hybriden nachgesagt. Hellblade gilt als Must Play, und wird von nicht wenigen als Meisterwerk deklariert. Ein Nachfolger ist in der Mache.


Ich bekam das Spiel vor ein paar Monaten von einem Freund geschenkt, so dass ich mit viel Vorfreude endlich hineinstarten konnte. Nach nur ein, zwei Spielsessions von einigen Stunden war diese verflogen, das Spiel reizte mich nicht, ich musste mich regelrecht zwingen, den Controller wieder in die Hand zu nehmen. Nach mehr als einem Monat halbherzigem Durchquälen warf ich das Handtuch und ging dazu über, den Rest des Spiels als Walkthrough auf Youtube zu sehen - nur um festzustellen, dass ich gerade mal bei 1/3 der Story war. 



Hellblade ist ein wahrhaft exemplarisch inszeniertes Filmspiel, das mit seinen Zwischensequenzen, seiner lebensnahen Mimik, den ausgezeichneten Synchronsprechern und der alles in allem so verblüffend-authentisch gelungenen Darstellung von Depression, psychischen Krankheiten im Allgemeinen und auch Missbrauch ein Brecher in Sachen audiovisuelle Videospielerfahrung darstellt. 


Unglücklicherweise wird diese Valkyre des Erfolgs gleich wieder vom Bergtroll des Gameplays vom Himmel geholt. Die spielerischen Aspekte von Hellblade: Senua's Sacrifice laden zu allerlei Wortspielen ein:

Die pure Hölle. Das Gameplay macht mich depressiv. Yoraiko's Sacrifice. 

Es durchwachsen zu nennen würde der Problematik nicht gerecht werden. Vielleicht noch von den Kämpfen abgesehen ist alles Gameplay in Hellblade eine anstrengende und wenig-unterhaltsame Angelegenheit, die durch überambitionierte Kopfnüsse und undurchdachtes Wiederholen sehr schnell sehr repitiv wird und den Fluss der eigentlich so fesselnden und immersiven Erzählung immer und immer wieder aufs Empfindlichste zerstört. 


Damit ist mein Vorfazit abgeschlossen. 
Empfehlung: Nicht selbst spielen. Als Wakthrough sehen. Man verpasst wirklich nicht viel. Und jetzt gehen wir noch etwas in die Tiefe.





Zurecht gefeiert: 
Grafik, Inszenierung, Thematik
Hellblade hat viel Lobpreisung erfahren und viel davon zurecht. Am offensichtlichsten tritt die grafische Gestaltung zu Tage, die mit der Unreal Enginge 4 umgesetzt wurde und mit ihrer stellenweise ungeheuer eindrucksvollen Detailgenauigkeit und Realitätstreue schon mal sprachlos schlägt. Immer wenn man denkt, herausragende Grafikstandards könnten nicht mehr getoppt werden, gibt es wieder einen neuen Platzhirsch. Zumindest war Hellbalde das, bis LoU2 dieser Tage erschien. Nun ja. 




Wie Senua's innerer Kampf, ihre Unsicherheit, ihre Krankheit und ihre Ängste, wie sich all ihr Seelenleben während ihrer Dellusionen in ihrem Gesicht bis aufs letzte Fältchen wiederspiegelt, ist schlichtweg sensationell. Jeder versteht es, jeder kann es beobachten, was da in Senua vorgeht. Man muss sich wirklich allmählich fragen, wie lange wir Polygonfiguren noch von Menschen unterscheiden können. Videospiel-unerfahrene Personen wie etwa meine eigene Mutter haben diese Fähigkeit schon bei Titeln wie Detroit: Become Human verloren.


Die Umgebungen in Hellblade sind der bedrückenden Reise entsprechend stimmig gestaltet, leer, tot und trostlos, aber fantasievoll und oft auch angenehm außergewöhnlich. Das nordische Setting kommt gut beim Spieler an, auch dank der vielen Erzählungen über Ragnarök und andere nordische Mythen.



Spricht man über die Inszenierung, kommt man über das besondere Gimmick von Hellbade nicht hinweg: Die Stimmen in Senua's Kopf. Fünf oder sechs verschiedene Senua's, alle mit verschiedenen Persönlichkeiten, die beinahe ohne Unterlass das gesamte Spiel auf sie einreden, sie bei Kämpfen und Rätseln entweder unterstützen oder verspotten, die ihre Gefühle und Gedanken ausdrücken und ein Stück weit auch uns als Spieler ansprechen. Das Spiel rät nicht umsonst, Hellblade mit Kopfhörern zu spielen: Ich habe SCHLECHTE Headphones und selbst MIR wurde klar wie unheimlich immersiv es ist, diese Stimmen um den eigenen Kopf herum zu hören. Das ist ein fantastisch gelungenes, dramaturgisches Element, das vor allem dann greift, wenn die Stimmen sich mit den Gedanken des Spielers überlappen: 


Ein Kampf ist scheinbar unfair-schwer und frustrierend, man wird nur niedergeschlagen. Senua's Stimmen kommentieren 'Hes too strong!', 'She CANT do it!', 'Dont give up!', 
'Its so frustrating...'

Man fühlt sich vom Spiel verstanden. Bei Rätseln ist es ähnlich: Läuft man eine Weile ziellos herum, fangen die Stimmen genau wie die eigenen Gedanken an daran zu zweifeln, ob man wirklich weiß was man gerade tut und ob das hier überhaupt einen Sinn hat. Außerdem unterstützen die Stimmen einen direkt, sein es kleine Hinweise bei Knobelein oder Warnungen in Kämpfen, wenn der tödliche Schlag des Gegners droht. Ein solches Element habe ich so noch nicht in Videospielen erlebt, und es wertet das Erlebnis ungemein auf.


Senua ist depressiv. Da ein solcher Zustand zur Zeit und Kultur der Wikinger aber wenig willkommen war, erleben wir diese Krankheit in Hellblade als 'Die Dunkelheit', was naheliegend und auch perfekt umgesetzt ist. 


Ich komme aus einer Phase meines Lebens, in der schwere Depressionen für Monate und Jahre mein Wegbegleiter waren, ebenso wie Isolation und eine grassierende Unsicherheit. Ich will sicher nicht behaupten, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben, aber doch zumindest, dass ich mich mit vielen Aspekten von Senua's innerem Zwist und dem feinfühlig-geschriebenen Dialogen identifizieren kann. Ich halte die Symptomatik in Hellblade als eindrucksovll und schmerzlich-treffend umgesetzt, und durch Senua's wahnhafte, monströse Visionen gewinnbringend ergänzt.


Wenig Videospiele trauen sich überhaupt ins risikoreiche Minenfeld der düsteren Depressionsverarbeitung, und als vermutlich der bisher bekannteste Titel mit dieser Ausrichtung überzeugt Hellblade in Sachen Authentizität auf ganzer Linie. Man leidet mit Senua und erkennt die eigenen Sorgen in ihr wieder. Hellblade ist allein schon deswegen mit Sicherheit von konventionellen Games abzugrenzen.


Die Kämpfe sind grundsätzlich auch gelungen. Das an Dark Souls erinnernde Kampfsystem mit Schwert und Körpereinsatz spielt sich wuchtig, gewaltvoll und dem Kontext entsprechend oft dramatisch. Im direkten Vergleich ist Hellblade aber behebiger und weniger flexibel, so dass die Kämpfe gerade gegen Übermächte an Gegnern oft langsam und latent wirken können. Die fokus-Option, die im restlichen Spiel für Rätsel relevant ist, kann genutzt werden, um die Abwehr von Gegnern zu brechen und diese bewegungsunfähig zu machen, während man auf sie einprügelt. Diese Funktion habe ich nicht so recht verstanden, da sie zumindest für mich keine Begrenzung zu haben schien und somit einem Unbesiegbarkeits-Zertifikat gleichkam. Vielleicht aber habe ich da nicht aufgepasst und der Fokus musste sich aufladen.

Das Kampfsystem kann für sich stehen, auch wenn es im letzten Drittel einige Balancing-Probleme gibt, auf die ich gleich noch eingehe. Es ist schade, dass es in den ersten 2/3 des Spiels nur selten Kämpfe gibt. 



Zu wenig kritisiert: 
Gameplay, Rätsel, Sackgassen

Das waren alles mehr oder weniger positive Aspekte, die Hellblade zu einem fantastischen Spiel machen. Könnten. Wäre da nicht die Tatsache, dass es keine Serie sondern ein Videospiel ist, das mit mehr auskommen muss(?) als Kämpfen. Und für welches Gameplay entscheidet man sich für sein psychische Krankheiten-basierendes Wikingerspiel mit toter Welt und dichter Atmosphäre? Na klar - Rätsel.

Ich muss natürlich einräumen, dass ich ein Sonderfall bin - Ich hasse Rätsel und Puzzle jeder Art in Videospielen, die sie nicht als explizites Genre haben, inbrünstig und könnte jedes Mal meinen Dickdarm ausscheiden wenn ich gezwungen bin, welche zu absolvieren. Weil sie mir aufzeigen, wie dumm ich doch bin. Dennoch halte ich die Rätseleinlagen in Hellblade für allgemeingültig eklig und vollkommen deplatziert. 


Das Gameplay in diesem Spiel besteht zu 80 % aus folgender Bucketlist: 
- Komm in einem Gebiet an
- Finde ein verschlossenes Tor mit Runen darauf, oder einen Weg an dem es nicht weitergeht
- Finde diese Runenformen in der Umgebung, um das Tor zu öffnen, oder setze einen Weg aus einer bestimmten Perspektive zusammen. 


Klingt einfach? Dann sucht ihr doch mal zwei Stunden in einem niedergebrannten Dorf nach einer Runenform, die auch nur von einer bestimmten Position und mit exakt-richtiger Kameraperspektive funktioniert und HOFFT, dass der Fokus es auch als richtig anerkennt. Und das aller zehn Minuten das gesamte Spiel über. Oftmals stellt sich auch einfach das Problem ein, dass man als Spieler nicht weiß, was man jetzt eigentlich gerade tun soll. Nicht immer versperren Runen oder kaputte Brüpcken den Weg, aber dennoch kommt man nicht weiter. Die Stimmen geben dann, genau wie bei vorhergehenden Problemen, ab und an Kommentare und kleine Hinweise ab, aber dabei bleibt es dann natürlich auch, weil sie Senua's Gedanken sind.


Hier, ein wunderbares Beispiel. Vor allem das R bei 5:30.


Sprich: Man ist GEZWUNGEN, diese schrecklichen Runenrätsel zu lösen, sonst KOMMT man im Spiel nicht weiter. Die Inszenierung und die Story sind abhängig davon, dass man für meinen Geschmack viel zu komplizierte und verkopfte Perspektivrätsel lösen muss, die nichts, aber auch gar nichts mit dem restlichen Spiel zu tun haben und der Story keinen Mehrwert geben. Sie sind da, weil die Entwickler einen Gameplay-Füller brauchten, und sie stören permanent, reißen einen aus jeder Filmsequenz und Atmosphäre heraus, weil man erst mal wieder eine Stunde planlos im Kreis laufen muss bevor man sich wieder entscheidet auf Youtube nachzusehen, wo unter jedem Video hunderte Leute genau so entnervt von den überflüssigen Rätseln sind. Es ist zum pegasusmelken. 


Später gibt es Späße wie ein finsteres Endlos-Labyrinth, in dem man den richtigen Weg wählen muss weil man sonst im Kreis läuft, oder lustige Schalterrätsel, die man hin und herstellen muss. Hätte es alles nicht gebraucht. Reißt einen alles aus der Immersion. Die Stimmen geben kleine Tipps die meistens wenig hilfreich sind, und fangen nach einiger Zeit an zu spotten oder ebenso zu verzweifeln wie wir. Aber mehr kommt nicht. Keine Hilfestellungen, wenn ein Spieler feststeckt. 



Natürlich - Senua hat auch keine Hilfe aus dem Nichts. Aber ein bekömmlicherer Spagat aus Detailtreue und Gameplay wäre angemessen gewesen. 

Das wirklich tragische an diesem Missverhältnis ist die Tatsache, dass es einem das gesamte Spiel madig macht. Ich musste mich über einen Monat immer wieder dazu animieren, für ein paar Minuten zu spielen, nur um nach einer Kurzen Zeit von Rumrennen und Runen suchen wieder auszumachen und ein Spiel einzulegen, das ich nicht unerträglich finde. Die Story und die Atmosphäre haben mich ganz und gar reingezogen, sind aber nichts Bekömmliches für schwache Nerven. Dieses bittere Gericht mit furchtbarem Try & Error-Suchspiel-Gameplay zu verbinden ist ein beinahe sicherer Garant für phänomenales Scheitern.


Und während das für die große Masse nicht zugetroffen ist, hat Hellblade für mich deswegen das Recht auf den Titel 'Fantastisches Spiel' verloren und rutscht tief, tief in die Mittelmäßigkeit. Viel lieber wäre ich mit Senua wirklich nur gelaufen. Hätte ihre Visionen durchlebt und das ausgestorbene 'Hel' erkundet. Es braucht bei einer solchen Handlung kein Gameplay. Und wenn doch, hätten die Kämpfe genügt. Es ist ein Jammer.


Die Kämpfe selbst bekommen auch noch ihr fett weg: Im großen und Ganzen, und von ein paar wenigen Bossen abgesehen, ändern sich diese so gut wie gar nicht, sondern schmeißen Senua immer wieder die selben, langsamen Gegner in stetig steigender Anzahl entgegen. Das wird innerhalb des Spiels sehr schnell repititiv. 


Das Finale der Reise übertreibt es dann endügltig mit absurden Gegnermassen, die das Erlebnis nicht schwerer sondern nur zäher gestalten. Dennoch muss man sagen, dass das Finale mit enigen guten Ideen, cineastischer audiovisueller Gestaltung und einem Damm voll Dramatik mehr als überzeugen kann.


Großer Knackpunkt: Die letzte Szene ist so dermaßen offensichtlich auf "SEQUEL!!!" getrimmt, dass man sich gleich wieder in die Dunkelheit zurückwünscht. Und das Sequel wurde auch schon, Überraschung, angekündigt. Danke, kein Interesse.


Die Savestate-Lüge verdient eine Erwähnung. Am Anfang des Spiels wird einem weißgemacht, man würde seinen Savestate verlieren, wenn man zu viele Kämpfe verliert. Während sich Hellblade damit endgütlig aus jeder Punkteskala ins Abseits teleportiert hätte, weil keine handvoll Spieler sich diese Tortur zweimal antun würden, finde ich es ebenso fragwürdig, dass das einfach geradeheraus gelogen war: Die Verwesung an Senua's Arm verschlimmert sich storybedingt, nicht mit verlorenen kämpfen. 


Der Gedanke, uns als Spieler mit der selben Angst und Unsicherheit wie Senua sie empfindet zu strafen stand dahinter, hat meiner Meinung nach aber nicht funktioniert und bleibt mir als 'Dreist' in Erinnerung.





Fazit

Spiele wie jene von QuanticDream fühlen sich wohl da, wo sie sind: In der filmischen Hollywood-Schmiede gameplayarmer-Popkorninszenierung, die wenig Eigenhandlung bedarf. Das geht auf und funktioniert. Einem Last of Us gelingt das eine besser als das andere, aber man verzeiht es ihm aufgrund seiner exorbiutant-hohen Qualität. Ein Journey hat richtig umgesetzt, wie man minimalistisches Gameplay ausreichend in eine Erfahrung einbaut.


Hellblade erreicht mit der Thematik und ihrer Umsetzung eine 999-Kombo auf der Richterskala, landet aber anbgesichts seines ratlosen und unbeholfenen Gameplays gleich wieder unten im Abort. Man wusste sich nicht, das Spiel stimmig zu füllen, und hat deswegen eben viel zu schwere Runenrätsel eingebaut, um die man NICHT HERUM KOMMT, wenn man weiterspielen will. Es gibt keine Hilfen und keine Lösungen, so dass man Hellblade am besten mit Youtube auf dem Smartphone spielt. Durch diese Sperrigkeit verliert der vermeintliche Hit wahrscheinlich nach wie vor viele Spieler und trübt sein eigentlich so lupenreines Produkt. 


Eine moderne Tragödie und etwas, das mich wirklich depressiv macht. Na ja, nicht wirklich
Pech gehabt, Ninja Theory. Das war nichts. Vielleicht ja beim nächsten Mal.


4 von 10 Feuertitanen für Hellblade: Senua's Sacrifice




- Yoraiko













Montag, 29. Juni 2020

Film-Review: 'Systemsprenger' (2019) - Sometimes copying is not enough




Mommy ist ein französischer Film, der 2014 eine sehr unangenehme, aber auch sehr lebensnahe und emotionale Einsicht in den Alltag eines verhaltensgestörten Kindes und der schwer-belasteten Beziehung zu seiner Muttter und seiner überforderten Umwelt bot. Der Film ist nicht für ein großes Publikum bestimmt und blieb so auch nur eingeschränkt erfolgreich. 


Dass ich dies dem Review oder besser gesagt der Besprechung zum deutschen Film Systemsprenger vorausschreibe, der 2019, fünf Jahre nach Mommy, in den Kinos anlief, liegt daran, dass es sich dabei um eine weit mehr als nur inspirierte Kopie handelt. Es passiert gelegentlich, dass Filme sich reichlich bei anderen Filmen bedienen, sei es nun in Punkto Szenenkomposition, Dramatik oder einer bestimmten Idee. Auch direkte Referenzen und Nachempfindungen sind keine Seltenheit. Bei Systemsprenger liegen die Dinge aber etwas anders, denn dieser eigentlich so überaus starke Film leidet insgesamt sehr darunter, dass er Xavier Dolan's vorangegangenes Werk 'Mommy' über weite Strecken unverschämt nachahmt. Ob dies bewusst oder - wie der Tenor der Verantwortlichen lauten wird - zufällig passiert ist, sei mal dahingestellt, aber vor ALLEM die Finalszene ist fast 1:1 aus Mommy geklaut. Sollte es sich dabei um reinen Zufall handeln, so kann man Regisseurin Nora Fingscheidt dafür nur bedauern. Dennoch, ein bitterer Beigeschmack bleibt, und ich erläutere gerne, warum.


Dazu noch ein Hinweis:
Systemsprenger ist, wie jeder Filmfreund wahrscheinlich schon mitbekommen hat, ein verblüffender und gelungener Film. Sowohl Mommy als auch Systemsprenger sind fantastische Sichtungen, und ich kann beide wirklich nur wärmstens empfehlen, da auch Systemsprenger eigene Stärken innehat und näher an der deutschen Realität ist als das französische Mommy. 


Mommy ist in meinen Augen jedoch der in jeder Hinsicht bessere Film, weil er keine direkte Vorlage kopiert und Systemsprenger sich gewollt oder ungewollt an den Bestandteilen seines geistigen Vorgängers abarbeitet, diese allerdings nur platter und geistloser umsetzen kann. 



Allgemein würde ich es so zusammenfassen, dass Mommy und Systemsprenger zwei verschiedene Versionen einer eigentlich gleichen Geschichte sind, was vor allem zählt, wenn die Kopie nicht bewusst war:


'Mommy' ist die emotionale, tiefgehende, aber auch ein Stück weit von der hässlichen Neubau-Graublau-Realität losgelöste, hochwertige Filmerfahrung, die uns mehrere Personen sehr komplex mit ihren Beziehungen nahebringt und eine konsequente Geschichte erzählt. 


'Systemsprenger' ist mit dem ungleich weniger subtilen Namen die oberflächlichere, 'schockierendere'
Seherfahrung, die vor allem den Krach, die Problematik und die Frustration in den Vorgergrund drängt, deutlich weniger Zwischentöne zulässt und die Charaktere insgesamt auch vielfach flacher inszeniert. Wer das 'einfach verdaulichere' Erlebnis möchte (Und beide Filme sind unangenehm, das steht fest) und vor allem am Schock-Value interessiert ist, der guckt Systemsprenger. 



Der Teufel liegt im Aufbau


'Mommy' erzählt die Geschichte der verwitweten Mutter Diane 'Die', die ihren ADHS-geplagten Teenagersohn Steve, welcher unter extremen Stimmungsschwankungen und Gewaltausbrüchen leidet, irgendwie unter Kontrolle halten muss und dabei nicht ihre Liebe für ihn vergessen darf. 


Der Film bietet mit Steve, Diane und der Exlehrerin Kyla, welche eine Art Vertrauensperson für Steve wird, drei vielschichtige und nachvollziehbare Figuren, die innerhalb des Filmes eine Entwicklung durchlaufen und an sich wachsen. 


Dies bekommen wir mit der ungewöhnlichen aber effektiven 1:1-Kamera präsentiert, die das Bild zum eingeengten Quadrat verstellt und so direkt auf den Emotionen der Charaktere bleibt. Der Film ist durchzogen von außergewöhnlichen und erinnerungswürdigen Szenen, die ein weites Emotionsspekttrum abdecken und von Hoffnung, Frustration, Angst, Trauer, Wut und Betroffenheit alles abdecken. Es gibt viel Subtext und der Zuschauer kann und muss Ungesagtes selbst verstehen.


Das Ende ist fatalistisch und scheinbar unausweichlich, dennoch ergibt es im Kontext des erzählten vollkommen Sinn und wird auch mit Musik untermalt, die passender und ausgeklügelter nicht gewählt sein könnte. Wichtiger noch: Es kündigt sich meilenweit an und ist bitterlich erwartbar. 


Mommy zeigt und mahnt, aber Mommy erklärt auch und bietet neben seiner schonungslosen Realität auch hoffnungsvolle Kommentare zur Problematik gestörter Familienverhätlnisse. 



Dann haben wir Systemsprenger. Die neunjährige Benni wird, genau wie Steve in Mommy, von Einrichtung zu Einrichtung gereicht. Keine Wohngruppe, keine Sonderschule und kein Heim will sie noch haben, weil ihr impulsives, gewalttätiges Verhalten alles und jeden um sie herum überfordert. Sie sprengt die Möglichkeiten des Systems. Versteht ihr? Darum der Titel. Haha. Jedenfalls wird hier der Fokus vor allem auf zwei Charaktere gelegt, Benni und den Anti-Gewalt-Trainer Micha, der das Mädchen täglich zur Schule begleiten soll und auch abgesehen davon zu ihrer Vertrauensperson wird. Ihre Mutter Bianca ist Bennis hauptsächliche Motivation, Benni will zurück zu ihr nach Hause, aber diese ist überfordert und hat Angst vor ihr, spielt im Film jedoch insgesamt eine untergeordnete Rolle. Es gibt noch die persönliche Betreuerin von Benni, die wichtig für die Handlung ist, aber hauptsächlich haben wir im Gegensatz zum gut ausbalancierten Dreiergespann in Mommy hier ein ungleiches Duo, das die Handlung bestimmt. Durch diese beiden eher oberflächlichen Charaktere und die noch oberflächlicheren Nebenpersonen verliert Systemsprenger im Gegensatz zum französischen Vorbild an Tiefe. Nicht, dass die sich zu intim entwickelnde Beziehung von Benni und ihrem baldigen Wunschpapa Micha (Kein Spoiler) nicht packend und gut inszeniert ist - definitiv ist sie das! Aber ist weit weniger nahegehend als die so schwierige und doch so komplexe Liebe zwischen Die und Steve in Mommy. 


Die Charaktere machen so gut wie keine Entwicklung durch. Die Handlung schreitet nicht voran. Benni ist in den letzten zehn Minuten exakt genau da, wo sie in den ersten Zehn war, trotz der vergangenen Zeitspanne, der durchlebten Erfahrungen und dem Einfluss von Menschen, die sich um sie sorgen. Micha verändert sich noch am ehesten da ihm bald klar wird, dass Benni ihm zu nahe kommt und er seine Integrität verliert, aber das führt zu nichts und endet im Nirgendwo. Benni besitzt keine Tiefe darüber hinaus, dass sie ein gestörtes, vernachlässigtes und misshandeltes Mädchen ist, das die Welt hasst, die sie nicht versteht, und einfach nur zu ihrer Mutter will. Sie ist ein aggressives, explosives und hoffnungsloses Wutbündel.


Nach 60 Minuten Systemsprenger bemerkt man genau wie nach 40 und 30 Minuten, dass die Handlung sich im Kreis dreht und nicht vorankommt. Wir haben es verstanden - Benni passt nirgendwo rein und kann sich nicht integrieren. Benni will einfach nur geliebt werden. Mehr Aussagekraft sucht man vergebens. Hat man die ersten 20 Minuten von Systemsprenger gesehen, hat man im Wesentlichen den Film gesehen. Ich verallgemeinere hier sehr stark, aber folgt bitte der Aussage, zu der ich will:


Das Ganze ist frustrierend. 
Und das soll es auch sein.
Der Film ist noch unangenehmer anzusehen als Mommy, aber weniger im positiven Sinne, sondern wirklich anstrengend und frustrierend. Man sieht mit an, wie jeder Versuch durch jede Person, an Benni heranzukommen und aus ihrer Verkapselung zu lösen königlich scheitert. Man sieht, wie jeder kleine Fortschritt, den sie zu machen scheint, Minuten später wieder in sich zusammenfällt. Der zentrale Handlungsbogen des Filmes, ein paar Tage in einer Waldhütte mit Micha und Benni, bietet Potential, die Wende oder zumindest der Funke Hoffnung zu sein, der Systemsprenger einfach so ganz fehlt - aber nichts dergleichen passiert, stattdessen ein weiterer, gescheiterter Anlauf und ein weiteres Ticket direkt zum Startfeld zurück, gehe nicht über Los, ziehe keine 3000 ein. 

Es ist frustrierend, und das soll es auch sein. Das macht Systemsprenger bewusst und das macht es gut, so viel sei dem Film gegönnt. Das große Problem daran ist, dass das nach einiger Zeit eintönig wird. Das Konzept der unangenehmen Hilflosigkeit, die wir als Zuschauer genau wie alle Pädagogen im Film empfinden, hat man spätestens nach einer halben Stunde verstanden. Danach und daneben aber bietet Systemsprenger nichts an.


Mommy wurde deswegen trotz seiner Hässlichkeit so wunderschön und bekömmlich, weil es zwischen den Schüben hilfloser Ausweglosigkeit echte Momenter ehrlicher Hoffnung anbot. Ein Fortschritt und eine Entwicklung, den die Charaktere absolvieren, während sie ihre Probleme bekämpfen und versuchen, ein normales Leben zu erreichen. Mommy zeigt, dass auch die schwierigsten Situationen unter den schlimmsten Umständen nie ganz verloren sind und es immer einen Grund gibt, nicht aufzugeben. Systemsprenger sagt einfach nur: 


"Manchmal ist anders sein eben hoffnungslos, und niemand kann etwas dagegen tun. Das ist das Leben.


Danke, Systemsprenger. Das war jetzt wirklich hilfreich. 



Film auf Kinderschultern - Überragende Schauspielleistung
Woraus Systemsprenger vor allem seinen enormen Schauwert generiert ist die atemlos-schlagende und unglaubliche Schauspielleistung der Hauptrolle Benni, verkörpert von Helena Zengel. Wie dieses Mädchen hier die verzweifelte und selbstzerstörerische Wut, die Verletzlichkeit und Bedürftigkeit nach Zuneigung und Verständnis so wie psychische Instabilität runterspielt lässt einen das Blut in den Adern gefrieren und ist eine der besten deutschen Schauspielleistungen seit langem. Helena Zengel dürfte eine äußerst vielversprechende Karriere vor sich haben, und das ist gut für uns, weil wir dann das Glück haben, weitere Filme mit ihr erwarten zu dürfen. 




Die Rolle des Micha wird von Albrecht Schuch recht ordentlich gespielt, mit der nötigen emotionalen Zugänglichkeit für das Mädchen Benni, das ihm schneller als ihm lieb ist ans Herz wächst. 


Der Rest ist annehmbar bis akzeptabel, wenn ich das so mit Übersee-Leistungen vergleiche.



Wo ist das Ende? - 
Wie man eine Szene falsch kopiert

Die Endszene von Systemsprenger ist für mich der mit Abstand größte Kritikpunkt am Film und der Moment, als ich wirklich schlucken musste ob der Dreistigkeit dieser annähernden 1:1-Mommy-Kopie, die schon weit jenseits von inspiriert stattfindet. Spoiler für beide Filmenden voraus. 





Mommy:
- Steve wird nach langem hin und her mit seiner Mutter, die ihn letztendlich aufgegeben hat, in eine geschlossene Anstalt eingewiesen
- Er reißt sich in einem unaufmerksamen Moment der 'Wächter' los und stürmt Richtung Fenster 
- Es setzt eine signifikante und tiefgehende Musik ein, die direkt mit dem Film verbunden ist 
- Kurz bevor Steve, wie impliziert durch einen vorhergehenden Selbstmordversuch, aus dem Fenster springt, schneidet der Film ins Schwarze über. Wird er sich umbringen? Wir wissen es nicht. Aber es ist durchaus eine Möglichkeit ob der Alleingelassenheit und Ausweglosigkeit, die Steve als abgeschobener Sohn verspüren muss. 



Systemsprenger:
- Benni wird nach vielen gescheiterten Erziehungsversuchen weg von ihrer Mutter, ihrer Betreuerin und ihrem Vertrauten Micha zu einer neuen Wohngruppe gebracht, sie befindet sich an einem Flughafen. 
- Vollkommen aus dem Nichts, ohne dass es sich vorher irgendwie angekündigt hätte, dass es Sinn ergeben würde oder Benni von irgendetwas dazu getrieben wird rennt sie los, weg von ihrem neuen Betreuer, zu eintöniger Elektroudelmusik.
- Sie gelangt auf das Dach des Flughafens und springt grinsend runter, das Bild friert ein und der Film endet zu pseudobefreiender Dudelei. Benny bringt sich um, weniger subtil als in Mommy wird das hier nicht impliziert sondern mit dem Holzhammer gezeigt.


Das Schlimme an dieser Szene ist, selbst ohne die unverschämt-kackendreiste Kopie, dass sich dieser letzte Ausweg von Benni nirgendwo vorher im Film ankündigt, und schon gar nicht einfach mal so am Flughafen umgesetzt werden sollte. Der Selbstmord kommt buchstäblich aus dem Nichts. Es ist geradezu, als hätte die Regisseurin nach 2/3 des Filmes gemerkt, dass sich die Handlung im Kreis dreht und sie sich in eine Sackgasse geschrieben hat, und den Film noch irgendwie beenden muss. Und da reden wir noch gar nicht darüber, dass 'Selbstmord' für ein kleines Kind ein vollkommen abstraktes Konzept ist und es seinen Grund hat, dass Kinder sich so gut wie nie das Leben nehmen. Die instinktive Angst vor dem Tod verhindert das. Das ist kein befriedigender Abschluss, es ist ein platter Abbruch ohne jede Aussagekraft oder Berechtigung. Und der ist auch noch geklaut. Autsch.



Interessanterweise bin ich vielleicht der erste, zumindest aber einer von mindestens seltenen Beobachtern, der diesen Zusammenhang zwischen Mommy und Systemsprenger herstellt. Der Film wurde (Nicht unverdient) mit Preisen und Lob überhäuft, wird für seine schonungslose Darstellung gepriesen und wird nirgendwo als Nachahmungstäter beschrieben. Dies wird sicherlich auch daran liegen, dass Mommy nicht sonderlich bekannt ist, aber vielleicht stört die Verbindung auch einfach niemanden.

Systemsprenger ist ja auch kein schlechter Film. Man sollte nur finde ich ganz klar unterscheiden, ob man ihn als revolutionären Problemfilm bewundert oder als anständige deutsche Antwort auf ein bereits in aller Perfektion behandeltes Thema ansieht. 

Ich kann mit Letzterem gut leben, aber eben auch nur jetzt, da ich mit der fehlenden Originalität von Systemsprenger abgerechnet habe. Mut hat der Film dennoch, so etwas hierzulande so gnadenlos zu inszenieren, und es ist fraglos einer der besten deutschen Filme jüngerer Vergangenheit. Aber kein Vergleich zu Mommy.





Fazit
Wer Systemsprenger mag, wird Mommy lieben. Wer Mommy mochte, wird auch Systemsprenger nicht ächten. Am besten schaut man sich beide Filme an, denn beide verdienen es. Hätte ich nur Systemsprenger gesehen, fände ich ihn vermutlich noch ein ganzes Stück besser und das ist auch in Ordnung, der Film ist stark und in jedem Fall eine Empfehlung für Freunde des schwierigen und problembehafteten Alltagskinos. 

Wer die künstlerische Variante möchte, wirft einen Blick nach Frankreich. 


6 von 10 Hurensohnwichsarschlöcher für Systemsprenger 

- Yoraiko












Filmreview: Mommy (2014) - Sometimes love is not enough





Das französische Kino ist lange bekannt dafür, sich regelmäßig unangenehmen, intimen Themen zu widmen, die man in anderen Ländern aufgrund ihrer Prisanz nicht mal mit Schutzanzug und Pinzette anfassen würde, auf eine offensive und ungeschönte Art und Weise. Mommy ist seit 2014 ein weiterer Eintrag in dieser langen Liste an 'Problemfilmen' französischer Herkunft. Problemfilm ist ein Term, der gerade von Blockbuster-Gängern oft abschätzig verwendet wird, ich aber empfinde ihn hier einfach als treffend - in Mommy geht es um die Probleme einer Familie, einer Mutter und ihrem unkontrollierbaren Sohn, einer instablen Lehrerin, einer Zukunft die hätte sein können. Aber Mommy macht viel mehr als aufzuzeigen, es legt die Finger künstlerisch gelungen in die Wunde von allen, die vielleicht in ihrem Leben in ähnlichen Situationen waren oder sind - und zum Beispiel eine schwierige Beziehung zu ihrer Mutter haben. 



Ein besonderer Junge



Diane 'Die' Després ist eine verwitwete Mutter am Existenzminimum, die sich neben ihrer Suche nach einer Arbeit um ihren unter ADHS-leidenden Sohn Steve kümmern muss, der ständig gewaltvolle und unkontrollierbare Wutausbrüche hat, sich nirgendwo integrieren kann und in seinem Verhalten unberechenbar ist. Kein Heim will ihn mehr nehmen, keine Schule ihn bilden, Diane ist mit ihrem Latein am Ende. Als die ehemalige Lehrerin Kyla in die Nachbarschaft zieht und eine Beziehung zu Diane und Steve aufbaut, verändert sich der triste Alltag des schwierigen Mutter-Sohn-Gespanns zum Positiven, und es entsteht die Hoffnung auf Normalität. 


Aber besteht für jemanden mit so tiefliegenden Störungen wie Steve, der von Geburt an damit kämpft anders zu sein, überhaupt jemals die Chance auf ein normales Leben?


Steve liebt seine Mutter. Und Diane liebt ihren Sohn. So oft die beiden sich in ihren Streitigkeiten anbrüllen, aufs Äußerste beschimpfen und tätlich gegeneinander werden, so offensichtlich ist, wie wichtig sie füreinander doch sind. Die Liebe einer Mutter ist eine unheimlich komplexe Sache, habe ich gehört, und wird in 'Mommy' auf viele Prüfungen gestellt. Wir als Zuschauer sind hautnah beim schmutzigen, trostlosen Alltag von Diane und Steve dabei, erleben ohne Unterlass wie sie versucht, ihren Sohn zu erziehen und ihm irgendwie einen Sinn für Vernunft zu geben. Und Steve seinerseits bemüht sich natürlich, das Richtige zu tun. Ein guter Sohn zu sein. Wer würde das nicht? So kauft er seiner Mutter eine teure Perlenkette, um sie für einen Moment von ihren Sorgen abzulenken. Er ist wenig begeistert, als Diane überzeugt ist, die Kette sei geklaut und dass Steve sie sofort zurückbringen müsse. Die Sache endet in einem Wutausbruch und heftigen, gewalttätigen Streit der beiden. Eine Szene symptomatisch für den Film.  


Sowohl die Rolle der überforderten Mutter, die alles versucht, ihrem Kind doch noch eine Zukunft zu ermöglichen, als auch die des selbstzerstörerischen Steve, der keine Grenzen kennt und kennen will, sind so überzeugend gespielt, dass es teilweise Aufnahmen aus dem Wohnzimmer einer Krisenfamilie sein könnten - nein, nicht die Laiendarsteller von RTL, echte Menschen.




Ich habe diesen Film beim zweiten Mal mit meiner Mutter gesehen. Ich habe ADHS und hatte als Teenager eine sehr, sehr schwierige Beziehung zu ihr, die oftmals mehr als nur laut und schmutzig wurde. Der Film berührte mich, natürlich, aber er berührte uns beide beim zweiten Sehen nochmal ganz anders, weil wir so viel von uns in Diane und Steve gesehen haben. Der Kloß im Hals für Menschen, die in 'Mommy' Assoziationen ziehen können, ist immens. 


Der Charakter von Nachbarin und Exlehrerin Kya übernimmt ein Stück weit die Rolle des Zuschauers, die in dieses vollkommen verrückte und doch so unglaublich intime Gespann aus Tochter und Sohn stolpert und ein Teil davon wird, indem sie ihre eigene Unsicherheit überwindet, Steve seine Grenzen aufzeigt und Diane eine Freundin schenkt. Die drei Charaktere wachsen aneinander und das ist sowohl schön als auch tragisch mit anzusehen. 



Unangenehm schön


All das erleben wir durch die in Filmen extrem ungewöhnliche 1:1-Kameraperspektive, die das Bild zu einem engen Quadrat zusammenschrumpft. Dies ist eine Perspektive, durch die wir die Emotionen der Personen noch fokusierter und ungestörter wahrnehmen, wie es der Regisseur auch wollte.





Der Film findet vor allem in zwei dominanten Farbtönen statt, Bernsteingelb und Kaltblau. Wie diese genau eingesetzt werden, sollte fast schon offensichtlich sein. Und das zusammen mit dem 1:1-Bild sind nur zwei Aspekte eines Filmes, der optisch so unheimlich viel zu bieten hat. Mommy ist unangenehm. Von Anfang bis Ende kann man sich kaum ein unangenehmeres, anstrenmgenderes Familiendrama ansehen als diesen Film. Dass er nichtsdestotrotz so stimmig funktioniert, visuell beeindruckt und einem die Gänsehaut in die Arme treibt, liegt neben den hervorragenden Dialogen an den Effekten


Der wahrscheinlich großartigste Moment im Film für mich bildet - Achtung Spoilerabsatz - die Szene, in der Steve zum wirklich genial eingesetzten 'Wonderwall' auf seinem Skateboard die Straße entlangfährt und mit seinen Händen die Kameraperspektive außeinanderschiebt, so dass wir ein 16:9-Bild haben. Nebst Adlerschrei. Nicht subtil, aber wunderschön und so, so intelligent. Auch schrumpft und wächst die Perspektive später noch mehrmals, um die Freiheit und dann doch wieder die Festgefahrenheit der Familienmisere zu versinnbildlichen. Ich verstehe nicht viel vom Filmemachen, aber ich finde das genial.


Eine besondere Tanszene inmitten des Filmes ist von außen gesehen nur schön, vielleicht ein bisschen unangenehm wenn man bedenkt, wie nah sich Steve und Diane hier sind, aber sie enthält so viel. Der Songtext, der sagt, dass niemand sich wirklich jemals ändert, ist trauriges Foreshadowing. Aber für den Moment ist es ein Augenblick von Zufriedenheit, in dem Diane und Steve miteinander tanzen und glauben können, dass doch irgendwann alles gut wird. Kyle erlebt hier den Bruch ihrer sie beherrschenden Unsicherheit und zusammen haben die drei einen Moment, der so viel Schönheit und Liebe innehat. Er unterstreicht, wie nahe Diane und ihr Sohn Steve sich stehen, wie nah sich vielleicht viele Mütter und Kinder in solch schwierigen Verhältnissen eigentlich stehen. Steve küsst Diane auch - durch seine Hand - oft auf den Mund, und will sie am Ende des Tages einfach nur glücklich machen. Diane ist mit Steve überfordert und weiß um seine Fehler, aber er ist eben ihr Sohn, und sie liebt ihn. 


 

Aber manchmal ist Liebe nicht genug.



Bittere Realität


Meine Mutter und ich hatten unsere jahrelange, tiefschürfende Krise miteinander irgendwann überwunden und wieder zueinander gefunden, wofür wir beide dankbar sind. Aber es läuft nunmal nicht in jedem Fall so. Ich leide nun auch nicht unter ähnlichen Verhaltensauffälligkeiten wie der Charakter des Steve, aber was 'Mommy' essentiell von der allerersten Minute an sagt ist, dass die Realität kein Happy End vorschreibt. Als Zuschauer fiebert man mit den einerseits furchtbaren, andererseits so liebevollen Charakteren mit, wünscht sich sehr, dass sie es irgendwie schaffen können aus ihrer Armut und ihrer perspektivlosen Zukunft zu entkommen, und weiß andererseits, dass das nicht passieren wird. Jeder Moment der Hoffnung, den Mommy uns anbietet, kandiert es mit einer bitteren Prise Realität. 


In einer der wohl eindrücklichsten, dramatischsten und emotionalsten Sequenzen realitätsnaher Filmdramen, untermalt von Ludovico Einaudis wundervollem 'Experience', erlebt Diane und so auch wir schlussendlich ein großes, trauriges Was wäre wenn. Wie schön hätte ein normales Leben doch sein können. Aber es hat nicht sollen sein. 


Das ist eine Problematik, die mich nicht erst seit dem, aber vermehrt beschäftigt - bin ich eine Enttäuschung für meine Mutter? Gibt es Momente in denen sie daran denkt, wie es hätte sein können, wenn aus mir etwas Anderes geworden wäre? Wenn ich nicht so fehlerbehaftet wäre, wie ich es nunmal leider bin? Denkt sie daran wie es wäre, ein 'besseres' Kind zu haben? Ich hoffe es nicht, und ich bemühe mich wirklich, dieser Vorstellung täglich entgegenzuwirken und ihr in allem was ich tue gerecht zu werden, und auch 'Mommy' hat mich in seiner Ungeschontheit und seinem Feingefühl was die Gedanken und Gefühle einfacher Menschen in schwierigen Situationen anbelangt dabei sehr unterstützt. 


Liebe ist manchmal nicht genug. Darum darf man nicht aufgeben. Niemand wird geboren um zu sterben. Und so wie der Film 'Mommy' sein konsequentes Ende findet, das mir bei jedem Ansehen wieder jeden Kloß in den Hals und jeden feuchten Brand in die Augen treibt, so muss jeder Zuschauer in einer ähnlichen Situation seinen eigenen Weg finden, die Realität zu ertragen und weiterzuleben. 


Wer nur den Film genießen möchte, der bekommt hier ein beeindruckend-authentisches Fenster in die trostlose und beschwerliche Realität kaputter Familien. Mit hochwertiger, audiovisueller Unterstützung, ganz ganz großen Szenenbildern in eigentlich heruntergekommenen, gewöhnlichen Umgebungen, und schmerzhaft-fühlbaren Emotionen.







Mommy ist ein unbedingter Tipp für jene, die wirklich schwierige, aber einrpägsame und wertvolle Filme über sich ergehen lassen können. Und er ist eine Pflichtempfehlung für Individuen zweifelhaften Glückes, die in ihrem Leben und ihrer Familie oftmals mit Hindernissen zu kämpfen hatten, welche die Realität für sie bereit hielt. Der Film kann therapeutisch und erhellend wirken, wirklich. Und wenn nicht das, dann ist er zumindest immer noch unterhaltsam und hochwertig produziert. Kein Spaßstreifen, aber einer fürs Herz. 





7 von 10 Skateboards für Mommy





- Yoraiko






















Donnerstag, 25. Juni 2020

Ersteindruck - Vampires Dawn Reborn Techdemo (RPG Maker)






Die RPG Makerspiele Vampires Dawn und Vampires Dawn 2, die in den frühesten Jahren der deutschen RPG-Maker-Szene von Alexander 'Marlex' Koch erstellt wurden, zählen bis heute zu den großen Königsklassikern und Mitbegründern der Bewegung. Unter anderem durch ihre Veröffentlichungen in der Zeitschrift Bravo Screenfun verschafften sie dem Makertool für einige Jahre eine schwindelerregende Bekanntheit. Während beide Spiele als Klassiker anerkannt sind, rümpft man heute eher die Nase über das veraltete Gameplay und die eingerosteten Mechaniken. 

 
Vampires Dawn 2 ist gemeinhin etwas besser gealtert als Teil1, und wurde vor einigen Jahren von mir selbst in einem opulenten und extensiven Remake grunderneuert und in ein im wesentlichen neues Spiel verwandelt. Dies passiert nun auch mit Vampires Dawn 1, auf eine noch sauberere, frischere und aufwendigere Art und Weise. Das Projekt 'Vampires Dawn: Reborn' von Kirimoar soll das hoffnungslos in die Jahre gekommene VD1, welches aus aktueller Sicht unspielbar ist, auf den Stand der Zeit heben und neue Spieler ansprechen. Ich habe mir die bisher veröffentlichte Techdemo von 30 Minuten Spielzeitlänge angesehen, um ein Gefühl für das Projekt zu bekommen. 





Alt vs. neu
Vampires Dawn leidet aus heutiger Sicht vor allem an folgenden Gameplay-Fossilien:
Unerträgliche Random Encounter auf der Welt und in jedem Gebiet, eine extrem lose und beliebige Handlung, permanenter Grinding-Zwang, ein gängelndes Tag-Nacht-System so wie fragwürdiges Balancing. Aber auch die Grafik ist unter aktuellen Gesichtspunkten selbst Nostalgikern schwer zu verkaufen. 

 
All diese Schatten der Vergangenheit möchte Kirimoar mit Neuzeit-Frische und viel Blingbling austreiben, so dass die Grafik vollkommen neu erstellt ist und die ganze Enginge mit dem modernen RPG Maker MV einige Vorteile dem alten 2000er gegenüber aufweist. Die Features klingen vielversprechend. 

 
Für alle potentiell-interessierten Spieler sage ich an dieser Stelle, dass die Demo Spaß macht, einen validen Ersteindruck bietet und eure 30 Minuten Zeit wert sind. Wenn ihr Vampires Dawn oder Vampire im allgemeinen mögt, hier ist der Link zur Vorstellung:
https://rpgmaker-mv.de/forum/thread/828-vampires-dawn-reborn/
Nun aber zur eigentlichen Techdemo und dem eher kleinteiligen Feedback für den Entwickler. Reden wir zuerst über das Offensichtlichste, das angesprochene, neue Design.



Von Killer zu KiKa

Das Design von VD war mit dem Titlescreen, den Charakterportraits und den Grafiken vor allem zweckmäßig. Zu seiner Zeit reichte das aber, um schaurige Atmosphäre zu kreieren. Mit Kirimoars Hochglanzfassade für VD: Reborn gibt es das nicht mehr, da wird sich um einen astreinen AAA-Eindruck bemüht. Während das 'verstaubte' 2000er VD mit seinem zusammengewürfelten Gruselstil aber zumindest einen gewissen Charme auf mich ausübte, empfinde ich das neue Design als zwar deutlich stimmiger und hochwertiger, aber auch als handzahmer. Der Titlescreen ist effektvoll zusammengesetzt, will aber nicht die selbe, düstere Abgesangs-Stimmung aufkommen lassen wie der des Originals - das mag aber auch nur Kenner dessen betreffen. Stattdessen wirkt er beinahe verspielt, und weckt bei mir irgendwie Assoziationen von KiKa und wie dieser Sender Vampire präsentieren würde. Mona der Vampir lässt grüßen. 

 
Das setzt sich für mich fort - und da komme ich zu einer sehr subjektiven Kritik - wenn ich mir das neue Design von Antagonist Abraxas ansehe, der in dieser Demo seinen ikonischen Auftritt absolviert. Der Abraxas in Vampires Dawn damals war durch sein ausdrucksloses Gesicht in seiner Darstellung beschränkt, wirkte aber gerade dadurch wie ein unnahbarer, geheimnisvoller und 'mächtiger' Charakter. Für mich macht das das Wesen dieses Charakters aus, diese kühle Arroganz.

Der neue Abraxas aus Reborn, mit seinen comichaften Augenringen und seinem unheimlich bösen Lachen wirkt wie eine Karikatur aus... nun ja, einem Vampircartoon. Wenn ich diesen Charakter sehe weiß ich, das ist ein Bösewicht den ich irgendwann vermöbeln werde. Diese Gedanken hatte ich im Original nicht, auch nicht als ich älter war. Aber das wird reine Geschmackssache sein.


Ansonsten ist es schade, dass Valnar wie im Original immer noch eine Zukunftsvision hat, die überhaupt keinen Sinn ergibt, auch wenn diese hier deutlich eleganter gelöst wurde.



Draw me like one of your dead girls 
Abgesehen von diesen kleinen Schnitzern ist das Redesign tadellos - Valnar und Aysha passt das neue Gewand wunderbar, die Umgebungen sind stimmiger, atmosphärischer, zeitgemäßer. Regen und Gewittereffekte sind genau wie passende Sounds, etwa Ayshas oder Valnars Schrei oder schließende Türen, ein Gewinn für das Spielgefühl.

 
Die Musik ist grundsätzlich eine unheimliche Verbesserung den geklauten Midis von dazumal gegenüber und lassen VD: Reborn weniger wie ein Makerspiel als viel mehr wie ein gutes Indiespiel erscheinen. Kritisch anzumerken ist, dass sie manchmal noch nicht passend eingesetzt wird, wie ich finde. Die Szene von Ayshas Entführung etwa wird begleitet von epischer Aufbruchsmusik. Außerdem ist die hochwertig-orchestrale Musik stellenweise fast schon zu dominant über dem eher leisen Geschehen wie einer regnerischen Nacht. 

 
Definitiv beeindruckend und als mein Highlight dieser Techdemo empfinde ich die endgültige Vernichtung von  Aysha durch Abraxas. Im Original war dies eine billig verarbeitete Blutszene, hier in Reborn aber zeigt Kirimoar seine Animationsmuskeln und präsentiert eine grausige Abfolge, die regelrecht weh tut. Kinky. 


Das neue Kampfsystem kann natürlich nur eine Verbesserung dem Original gegenüber sein, und die Animationen sind hübsch und vielversprechend, die Musik sehr treibend. Einen unanimierten Gegner über den Bildschirm zu bewegen ist etwas gewöhnungsbedürftig, aber das ändert sich später ja vielleicht auch noch. 


Zuguterletzt ist es überaus schade, dass es dem Ersteller und dem Betatester nicht möglich war, selbst diese kurze Techdemo bugfrei zu gestalten bzw. ein reibungsloses Durchspielen zu ermöglichen. Gleich zu Anfang geriet ich automatisch in einen Bug, der mir das Weiterspielen unmöglich machte, eine Antwort auf mein Hilfegesuch im Thread blieb aus. Ich löste das dann über ein Walkthrough-Video auf Youtube, und das ist ja auch nur eine Techdemo, aber schade, nichtsdestotrotz. 




Fazit - Wir dürfen gespannt sein
Zwar wird Vampires Dawn: Reborn in diesem Stil sicher nicht wie das Original ein düsteres Gruseladventure werden, aber der neue Hochglanz-Stil macht definitiv Lust auf mehr, es ist ja auch nicht schlecht, sich vom Original zu unterscheiden. Die Umgebungen wirken lebendiger, das Kampfsystem zeitgemäßer, als es im veralteten VD1 der Fall sein könnte. 


Wenn Kirimoar noch an den etwas groben Details seiner Präsentation arbeitet, wird man hier vermutlich einen würdigen, weiteren Eintrag des VD-universe bekommen.




- Yoraiko