Das französische Kino ist lange bekannt dafür, sich regelmäßig unangenehmen, intimen Themen zu widmen, die man in anderen Ländern aufgrund ihrer Prisanz nicht mal mit Schutzanzug und Pinzette anfassen würde, auf eine offensive und ungeschönte Art und Weise. Mommy ist seit 2014 ein weiterer Eintrag in dieser langen Liste an 'Problemfilmen' französischer Herkunft. Problemfilm ist ein Term, der gerade von Blockbuster-Gängern oft abschätzig verwendet wird, ich aber empfinde ihn hier einfach als treffend - in Mommy geht es um die Probleme einer Familie, einer Mutter und ihrem unkontrollierbaren Sohn, einer instablen Lehrerin, einer Zukunft die hätte sein können. Aber Mommy macht viel mehr als aufzuzeigen, es legt die Finger künstlerisch gelungen in die Wunde von allen, die vielleicht in ihrem Leben in ähnlichen Situationen waren oder sind - und zum Beispiel eine schwierige Beziehung zu ihrer Mutter haben.
Ein besonderer Junge
Diane 'Die' Després ist eine verwitwete Mutter am Existenzminimum, die sich neben ihrer Suche nach einer Arbeit um ihren unter ADHS-leidenden Sohn Steve kümmern muss, der ständig gewaltvolle und unkontrollierbare Wutausbrüche hat, sich nirgendwo integrieren kann und in seinem Verhalten unberechenbar ist. Kein Heim will ihn mehr nehmen, keine Schule ihn bilden, Diane ist mit ihrem Latein am Ende. Als die ehemalige Lehrerin Kyla in die Nachbarschaft zieht und eine Beziehung zu Diane und Steve aufbaut, verändert sich der triste Alltag des schwierigen Mutter-Sohn-Gespanns zum Positiven, und es entsteht die Hoffnung auf Normalität.
Aber besteht für jemanden mit so tiefliegenden Störungen wie Steve, der von Geburt an damit kämpft anders zu sein, überhaupt jemals die Chance auf ein normales Leben?
Steve liebt seine Mutter. Und Diane liebt ihren Sohn. So oft die beiden sich in ihren Streitigkeiten anbrüllen, aufs Äußerste beschimpfen und tätlich gegeneinander werden, so offensichtlich ist, wie wichtig sie füreinander doch sind. Die Liebe einer Mutter ist eine unheimlich komplexe Sache, habe ich gehört, und wird in 'Mommy' auf viele Prüfungen gestellt. Wir als Zuschauer sind hautnah beim schmutzigen, trostlosen Alltag von Diane und Steve dabei, erleben ohne Unterlass wie sie versucht, ihren Sohn zu erziehen und ihm irgendwie einen Sinn für Vernunft zu geben. Und Steve seinerseits bemüht sich natürlich, das Richtige zu tun. Ein guter Sohn zu sein. Wer würde das nicht? So kauft er seiner Mutter eine teure Perlenkette, um sie für einen Moment von ihren Sorgen abzulenken. Er ist wenig begeistert, als Diane überzeugt ist, die Kette sei geklaut und dass Steve sie sofort zurückbringen müsse. Die Sache endet in einem Wutausbruch und heftigen, gewalttätigen Streit der beiden. Eine Szene symptomatisch für den Film.
Sowohl die Rolle der überforderten Mutter, die alles versucht, ihrem Kind doch noch eine Zukunft zu ermöglichen, als auch die des selbstzerstörerischen Steve, der keine Grenzen kennt und kennen will, sind so überzeugend gespielt, dass es teilweise Aufnahmen aus dem Wohnzimmer einer Krisenfamilie sein könnten - nein, nicht die Laiendarsteller von RTL, echte Menschen.
Ich habe diesen Film beim zweiten Mal mit meiner Mutter gesehen. Ich habe ADHS und hatte als Teenager eine sehr, sehr schwierige Beziehung zu ihr, die oftmals mehr als nur laut und schmutzig wurde. Der Film berührte mich, natürlich, aber er berührte uns beide beim zweiten Sehen nochmal ganz anders, weil wir so viel von uns in Diane und Steve gesehen haben. Der Kloß im Hals für Menschen, die in 'Mommy' Assoziationen ziehen können, ist immens.
Der Charakter von Nachbarin und Exlehrerin Kya übernimmt ein Stück weit die Rolle des Zuschauers, die in dieses vollkommen verrückte und doch so unglaublich intime Gespann aus Tochter und Sohn stolpert und ein Teil davon wird, indem sie ihre eigene Unsicherheit überwindet, Steve seine Grenzen aufzeigt und Diane eine Freundin schenkt. Die drei Charaktere wachsen aneinander und das ist sowohl schön als auch tragisch mit anzusehen.
Unangenehm schön
All das erleben wir durch die in Filmen extrem ungewöhnliche 1:1-Kameraperspektive, die das Bild zu einem engen Quadrat zusammenschrumpft. Dies ist eine Perspektive, durch die wir die Emotionen der Personen noch fokusierter und ungestörter wahrnehmen, wie es der Regisseur auch wollte.
Der Film findet vor allem in zwei dominanten Farbtönen statt, Bernsteingelb und Kaltblau. Wie diese genau eingesetzt werden, sollte fast schon offensichtlich sein. Und das zusammen mit dem 1:1-Bild sind nur zwei Aspekte eines Filmes, der optisch so unheimlich viel zu bieten hat. Mommy ist unangenehm. Von Anfang bis Ende kann man sich kaum ein unangenehmeres, anstrenmgenderes Familiendrama ansehen als diesen Film. Dass er nichtsdestotrotz so stimmig funktioniert, visuell beeindruckt und einem die Gänsehaut in die Arme treibt, liegt neben den hervorragenden Dialogen an den Effekten.
Der wahrscheinlich großartigste Moment im Film für mich bildet - Achtung Spoilerabsatz - die Szene, in der Steve zum wirklich genial eingesetzten 'Wonderwall' auf seinem Skateboard die Straße entlangfährt und mit seinen Händen die Kameraperspektive außeinanderschiebt, so dass wir ein 16:9-Bild haben. Nebst Adlerschrei. Nicht subtil, aber wunderschön und so, so intelligent. Auch schrumpft und wächst die Perspektive später noch mehrmals, um die Freiheit und dann doch wieder die Festgefahrenheit der Familienmisere zu versinnbildlichen. Ich verstehe nicht viel vom Filmemachen, aber ich finde das genial.
Eine besondere Tanszene inmitten des Filmes ist von außen gesehen nur schön, vielleicht ein bisschen unangenehm wenn man bedenkt, wie nah sich Steve und Diane hier sind, aber sie enthält so viel. Der Songtext, der sagt, dass niemand sich wirklich jemals ändert, ist trauriges Foreshadowing. Aber für den Moment ist es ein Augenblick von Zufriedenheit, in dem Diane und Steve miteinander tanzen und glauben können, dass doch irgendwann alles gut wird. Kyle erlebt hier den Bruch ihrer sie beherrschenden Unsicherheit und zusammen haben die drei einen Moment, der so viel Schönheit und Liebe innehat. Er unterstreicht, wie nahe Diane und ihr Sohn Steve sich stehen, wie nah sich vielleicht viele Mütter und Kinder in solch schwierigen Verhältnissen eigentlich stehen. Steve küsst Diane auch - durch seine Hand - oft auf den Mund, und will sie am Ende des Tages einfach nur glücklich machen. Diane ist mit Steve überfordert und weiß um seine Fehler, aber er ist eben ihr Sohn, und sie liebt ihn.
Aber manchmal ist Liebe nicht genug.
Bittere Realität
Meine Mutter und ich hatten unsere jahrelange, tiefschürfende Krise miteinander irgendwann überwunden und wieder zueinander gefunden, wofür wir beide dankbar sind. Aber es läuft nunmal nicht in jedem Fall so. Ich leide nun auch nicht unter ähnlichen Verhaltensauffälligkeiten wie der Charakter des Steve, aber was 'Mommy' essentiell von der allerersten Minute an sagt ist, dass die Realität kein Happy End vorschreibt. Als Zuschauer fiebert man mit den einerseits furchtbaren, andererseits so liebevollen Charakteren mit, wünscht sich sehr, dass sie es irgendwie schaffen können aus ihrer Armut und ihrer perspektivlosen Zukunft zu entkommen, und weiß andererseits, dass das nicht passieren wird. Jeder Moment der Hoffnung, den Mommy uns anbietet, kandiert es mit einer bitteren Prise Realität.
In einer der wohl eindrücklichsten, dramatischsten und emotionalsten Sequenzen realitätsnaher Filmdramen, untermalt von Ludovico Einaudis wundervollem 'Experience', erlebt Diane und so auch wir schlussendlich ein großes, trauriges Was wäre wenn. Wie schön hätte ein normales Leben doch sein können. Aber es hat nicht sollen sein.
Das ist eine Problematik, die mich nicht erst seit dem, aber vermehrt beschäftigt - bin ich eine Enttäuschung für meine Mutter? Gibt es Momente in denen sie daran denkt, wie es hätte sein können, wenn aus mir etwas Anderes geworden wäre? Wenn ich nicht so fehlerbehaftet wäre, wie ich es nunmal leider bin? Denkt sie daran wie es wäre, ein 'besseres' Kind zu haben? Ich hoffe es nicht, und ich bemühe mich wirklich, dieser Vorstellung täglich entgegenzuwirken und ihr in allem was ich tue gerecht zu werden, und auch 'Mommy' hat mich in seiner Ungeschontheit und seinem Feingefühl was die Gedanken und Gefühle einfacher Menschen in schwierigen Situationen anbelangt dabei sehr unterstützt.
Liebe ist manchmal nicht genug. Darum darf man nicht aufgeben. Niemand wird geboren um zu sterben. Und so wie der Film 'Mommy' sein konsequentes Ende findet, das mir bei jedem Ansehen wieder jeden Kloß in den Hals und jeden feuchten Brand in die Augen treibt, so muss jeder Zuschauer in einer ähnlichen Situation seinen eigenen Weg finden, die Realität zu ertragen und weiterzuleben.
Wer nur den Film genießen möchte, der bekommt hier ein beeindruckend-authentisches Fenster in die trostlose und beschwerliche Realität kaputter Familien. Mit hochwertiger, audiovisueller Unterstützung, ganz ganz großen Szenenbildern in eigentlich heruntergekommenen, gewöhnlichen Umgebungen, und schmerzhaft-fühlbaren Emotionen.
Mommy ist ein unbedingter Tipp für jene, die wirklich schwierige, aber einrpägsame und wertvolle Filme über sich ergehen lassen können. Und er ist eine Pflichtempfehlung für Individuen zweifelhaften Glückes, die in ihrem Leben und ihrer Familie oftmals mit Hindernissen zu kämpfen hatten, welche die Realität für sie bereit hielt. Der Film kann therapeutisch und erhellend wirken, wirklich. Und wenn nicht das, dann ist er zumindest immer noch unterhaltsam und hochwertig produziert. Kein Spaßstreifen, aber einer fürs Herz.
7 von 10 Skateboards für Mommy
- Yoraiko
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