Mommy ist ein französischer Film, der 2014 eine sehr unangenehme, aber auch sehr lebensnahe und emotionale Einsicht in den Alltag eines verhaltensgestörten Kindes und der schwer-belasteten Beziehung zu seiner Muttter und seiner überforderten Umwelt bot. Der Film ist nicht für ein großes Publikum bestimmt und blieb so auch nur eingeschränkt erfolgreich.
Dass ich dies dem Review oder besser gesagt der Besprechung zum deutschen Film Systemsprenger vorausschreibe, der 2019, fünf Jahre nach Mommy, in den Kinos anlief, liegt daran, dass es sich dabei um eine weit mehr als nur inspirierte Kopie handelt. Es passiert gelegentlich, dass Filme sich reichlich bei anderen Filmen bedienen, sei es nun in Punkto Szenenkomposition, Dramatik oder einer bestimmten Idee. Auch direkte Referenzen und Nachempfindungen sind keine Seltenheit. Bei Systemsprenger liegen die Dinge aber etwas anders, denn dieser eigentlich so überaus starke Film leidet insgesamt sehr darunter, dass er Xavier Dolan's vorangegangenes Werk 'Mommy' über weite Strecken unverschämt nachahmt. Ob dies bewusst oder - wie der Tenor der Verantwortlichen lauten wird - zufällig passiert ist, sei mal dahingestellt, aber vor ALLEM die Finalszene ist fast 1:1 aus Mommy geklaut. Sollte es sich dabei um reinen Zufall handeln, so kann man Regisseurin Nora Fingscheidt dafür nur bedauern. Dennoch, ein bitterer Beigeschmack bleibt, und ich erläutere gerne, warum.
Dazu noch ein Hinweis:
Systemsprenger ist, wie jeder Filmfreund wahrscheinlich schon mitbekommen hat, ein verblüffender und gelungener Film. Sowohl Mommy als auch Systemsprenger sind fantastische Sichtungen, und ich kann beide wirklich nur wärmstens empfehlen, da auch Systemsprenger eigene Stärken innehat und näher an der deutschen Realität ist als das französische Mommy.
Mommy ist in meinen Augen jedoch der in jeder Hinsicht bessere Film, weil er keine direkte Vorlage kopiert und Systemsprenger sich gewollt oder ungewollt an den Bestandteilen seines geistigen Vorgängers abarbeitet, diese allerdings nur platter und geistloser umsetzen kann.
Allgemein würde ich es so zusammenfassen, dass Mommy und Systemsprenger zwei verschiedene Versionen einer eigentlich gleichen Geschichte sind, was vor allem zählt, wenn die Kopie nicht bewusst war:
'Mommy' ist die emotionale, tiefgehende, aber auch ein Stück weit von der hässlichen Neubau-Graublau-Realität losgelöste, hochwertige Filmerfahrung, die uns mehrere Personen sehr komplex mit ihren Beziehungen nahebringt und eine konsequente Geschichte erzählt.
'Systemsprenger' ist mit dem ungleich weniger subtilen Namen die oberflächlichere, 'schockierendere'
Seherfahrung, die vor allem den Krach, die Problematik und die Frustration in den Vorgergrund drängt, deutlich weniger Zwischentöne zulässt und die Charaktere insgesamt auch vielfach flacher inszeniert. Wer das 'einfach verdaulichere' Erlebnis möchte (Und beide Filme sind unangenehm, das steht fest) und vor allem am Schock-Value interessiert ist, der guckt Systemsprenger.
Der Teufel liegt im Aufbau
'Mommy' erzählt die Geschichte der verwitweten Mutter Diane 'Die', die ihren ADHS-geplagten Teenagersohn Steve, welcher unter extremen Stimmungsschwankungen und Gewaltausbrüchen leidet, irgendwie unter Kontrolle halten muss und dabei nicht ihre Liebe für ihn vergessen darf.
Der Film bietet mit Steve, Diane und der Exlehrerin Kyla, welche eine Art Vertrauensperson für Steve wird, drei vielschichtige und nachvollziehbare Figuren, die innerhalb des Filmes eine Entwicklung durchlaufen und an sich wachsen.
Dies bekommen wir mit der ungewöhnlichen aber effektiven 1:1-Kamera präsentiert, die das Bild zum eingeengten Quadrat verstellt und so direkt auf den Emotionen der Charaktere bleibt. Der Film ist durchzogen von außergewöhnlichen und erinnerungswürdigen Szenen, die ein weites Emotionsspekttrum abdecken und von Hoffnung, Frustration, Angst, Trauer, Wut und Betroffenheit alles abdecken. Es gibt viel Subtext und der Zuschauer kann und muss Ungesagtes selbst verstehen.
Das Ende ist fatalistisch und scheinbar unausweichlich, dennoch ergibt es im Kontext des erzählten vollkommen Sinn und wird auch mit Musik untermalt, die passender und ausgeklügelter nicht gewählt sein könnte. Wichtiger noch: Es kündigt sich meilenweit an und ist bitterlich erwartbar.
Mommy zeigt und mahnt, aber Mommy erklärt auch und bietet neben seiner schonungslosen Realität auch hoffnungsvolle Kommentare zur Problematik gestörter Familienverhätlnisse.
Dann haben wir Systemsprenger. Die neunjährige Benni wird, genau wie Steve in Mommy, von Einrichtung zu Einrichtung gereicht. Keine Wohngruppe, keine Sonderschule und kein Heim will sie noch haben, weil ihr impulsives, gewalttätiges Verhalten alles und jeden um sie herum überfordert. Sie sprengt die Möglichkeiten des Systems. Versteht ihr? Darum der Titel. Haha. Jedenfalls wird hier der Fokus vor allem auf zwei Charaktere gelegt, Benni und den Anti-Gewalt-Trainer Micha, der das Mädchen täglich zur Schule begleiten soll und auch abgesehen davon zu ihrer Vertrauensperson wird. Ihre Mutter Bianca ist Bennis hauptsächliche Motivation, Benni will zurück zu ihr nach Hause, aber diese ist überfordert und hat Angst vor ihr, spielt im Film jedoch insgesamt eine untergeordnete Rolle. Es gibt noch die persönliche Betreuerin von Benni, die wichtig für die Handlung ist, aber hauptsächlich haben wir im Gegensatz zum gut ausbalancierten Dreiergespann in Mommy hier ein ungleiches Duo, das die Handlung bestimmt. Durch diese beiden eher oberflächlichen Charaktere und die noch oberflächlicheren Nebenpersonen verliert Systemsprenger im Gegensatz zum französischen Vorbild an Tiefe. Nicht, dass die sich zu intim entwickelnde Beziehung von Benni und ihrem baldigen Wunschpapa Micha (Kein Spoiler) nicht packend und gut inszeniert ist - definitiv ist sie das! Aber ist weit weniger nahegehend als die so schwierige und doch so komplexe Liebe zwischen Die und Steve in Mommy.
Die Charaktere machen so gut wie keine Entwicklung durch. Die Handlung schreitet nicht voran. Benni ist in den letzten zehn Minuten exakt genau da, wo sie in den ersten Zehn war, trotz der vergangenen Zeitspanne, der durchlebten Erfahrungen und dem Einfluss von Menschen, die sich um sie sorgen. Micha verändert sich noch am ehesten da ihm bald klar wird, dass Benni ihm zu nahe kommt und er seine Integrität verliert, aber das führt zu nichts und endet im Nirgendwo. Benni besitzt keine Tiefe darüber hinaus, dass sie ein gestörtes, vernachlässigtes und misshandeltes Mädchen ist, das die Welt hasst, die sie nicht versteht, und einfach nur zu ihrer Mutter will. Sie ist ein aggressives, explosives und hoffnungsloses Wutbündel.
Nach 60 Minuten Systemsprenger bemerkt man genau wie nach 40 und 30 Minuten, dass die Handlung sich im Kreis dreht und nicht vorankommt. Wir haben es verstanden - Benni passt nirgendwo rein und kann sich nicht integrieren. Benni will einfach nur geliebt werden. Mehr Aussagekraft sucht man vergebens. Hat man die ersten 20 Minuten von Systemsprenger gesehen, hat man im Wesentlichen den Film gesehen. Ich verallgemeinere hier sehr stark, aber folgt bitte der Aussage, zu der ich will:
Das Ganze ist frustrierend.
Und das soll es auch sein.
Der Film ist noch unangenehmer anzusehen als Mommy, aber weniger im positiven Sinne, sondern wirklich anstrengend und frustrierend. Man sieht mit an, wie jeder Versuch durch jede Person, an Benni heranzukommen und aus ihrer Verkapselung zu lösen königlich scheitert. Man sieht, wie jeder kleine Fortschritt, den sie zu machen scheint, Minuten später wieder in sich zusammenfällt. Der zentrale Handlungsbogen des Filmes, ein paar Tage in einer Waldhütte mit Micha und Benni, bietet Potential, die Wende oder zumindest der Funke Hoffnung zu sein, der Systemsprenger einfach so ganz fehlt - aber nichts dergleichen passiert, stattdessen ein weiterer, gescheiterter Anlauf und ein weiteres Ticket direkt zum Startfeld zurück, gehe nicht über Los, ziehe keine 3000 ein.
Es ist frustrierend, und das soll es auch sein. Das macht Systemsprenger bewusst und das macht es gut, so viel sei dem Film gegönnt. Das große Problem daran ist, dass das nach einiger Zeit eintönig wird. Das Konzept der unangenehmen Hilflosigkeit, die wir als Zuschauer genau wie alle Pädagogen im Film empfinden, hat man spätestens nach einer halben Stunde verstanden. Danach und daneben aber bietet Systemsprenger nichts an.
Mommy wurde deswegen trotz seiner Hässlichkeit so wunderschön und bekömmlich, weil es zwischen den Schüben hilfloser Ausweglosigkeit echte Momenter ehrlicher Hoffnung anbot. Ein Fortschritt und eine Entwicklung, den die Charaktere absolvieren, während sie ihre Probleme bekämpfen und versuchen, ein normales Leben zu erreichen. Mommy zeigt, dass auch die schwierigsten Situationen unter den schlimmsten Umständen nie ganz verloren sind und es immer einen Grund gibt, nicht aufzugeben. Systemsprenger sagt einfach nur:
"Manchmal ist anders sein eben hoffnungslos, und niemand kann etwas dagegen tun. Das ist das Leben."
Danke, Systemsprenger. Das war jetzt wirklich hilfreich.
Film auf Kinderschultern - Überragende Schauspielleistung
Woraus Systemsprenger vor allem seinen enormen Schauwert generiert ist die atemlos-schlagende und unglaubliche Schauspielleistung der Hauptrolle Benni, verkörpert von Helena Zengel. Wie dieses Mädchen hier die verzweifelte und selbstzerstörerische Wut, die Verletzlichkeit und Bedürftigkeit nach Zuneigung und Verständnis so wie psychische Instabilität runterspielt lässt einen das Blut in den Adern gefrieren und ist eine der besten deutschen Schauspielleistungen seit langem. Helena Zengel dürfte eine äußerst vielversprechende Karriere vor sich haben, und das ist gut für uns, weil wir dann das Glück haben, weitere Filme mit ihr erwarten zu dürfen.
Die Rolle des Micha wird von Albrecht Schuch recht ordentlich gespielt, mit der nötigen emotionalen Zugänglichkeit für das Mädchen Benni, das ihm schneller als ihm lieb ist ans Herz wächst.
Der Rest ist annehmbar bis akzeptabel, wenn ich das so mit Übersee-Leistungen vergleiche.
Wo ist das Ende? -
Wie man eine Szene falsch kopiert
Die Endszene von Systemsprenger ist für mich der mit Abstand größte Kritikpunkt am Film und der Moment, als ich wirklich schlucken musste ob der Dreistigkeit dieser annähernden 1:1-Mommy-Kopie, die schon weit jenseits von inspiriert stattfindet. Spoiler für beide Filmenden voraus.
Mommy:
- Steve wird nach langem hin und her mit seiner Mutter, die ihn letztendlich aufgegeben hat, in eine geschlossene Anstalt eingewiesen
- Er reißt sich in einem unaufmerksamen Moment der 'Wächter' los und stürmt Richtung Fenster
- Es setzt eine signifikante und tiefgehende Musik ein, die direkt mit dem Film verbunden ist
- Kurz bevor Steve, wie impliziert durch einen vorhergehenden Selbstmordversuch, aus dem Fenster springt, schneidet der Film ins Schwarze über. Wird er sich umbringen? Wir wissen es nicht. Aber es ist durchaus eine Möglichkeit ob der Alleingelassenheit und Ausweglosigkeit, die Steve als abgeschobener Sohn verspüren muss.
Systemsprenger:
- Benni wird nach vielen gescheiterten Erziehungsversuchen weg von ihrer Mutter, ihrer Betreuerin und ihrem Vertrauten Micha zu einer neuen Wohngruppe gebracht, sie befindet sich an einem Flughafen.
- Vollkommen aus dem Nichts, ohne dass es sich vorher irgendwie angekündigt hätte, dass es Sinn ergeben würde oder Benni von irgendetwas dazu getrieben wird rennt sie los, weg von ihrem neuen Betreuer, zu eintöniger Elektroudelmusik.
- Sie gelangt auf das Dach des Flughafens und springt grinsend runter, das Bild friert ein und der Film endet zu pseudobefreiender Dudelei. Benny bringt sich um, weniger subtil als in Mommy wird das hier nicht impliziert sondern mit dem Holzhammer gezeigt.
Das Schlimme an dieser Szene ist, selbst ohne die unverschämt-kackendreiste Kopie, dass sich dieser letzte Ausweg von Benni nirgendwo vorher im Film ankündigt, und schon gar nicht einfach mal so am Flughafen umgesetzt werden sollte. Der Selbstmord kommt buchstäblich aus dem Nichts. Es ist geradezu, als hätte die Regisseurin nach 2/3 des Filmes gemerkt, dass sich die Handlung im Kreis dreht und sie sich in eine Sackgasse geschrieben hat, und den Film noch irgendwie beenden muss. Und da reden wir noch gar nicht darüber, dass 'Selbstmord' für ein kleines Kind ein vollkommen abstraktes Konzept ist und es seinen Grund hat, dass Kinder sich so gut wie nie das Leben nehmen. Die instinktive Angst vor dem Tod verhindert das. Das ist kein befriedigender Abschluss, es ist ein platter Abbruch ohne jede Aussagekraft oder Berechtigung. Und der ist auch noch geklaut. Autsch.
Interessanterweise bin ich vielleicht der erste, zumindest aber einer von mindestens seltenen Beobachtern, der diesen Zusammenhang zwischen Mommy und Systemsprenger herstellt. Der Film wurde (Nicht unverdient) mit Preisen und Lob überhäuft, wird für seine schonungslose Darstellung gepriesen und wird nirgendwo als Nachahmungstäter beschrieben. Dies wird sicherlich auch daran liegen, dass Mommy nicht sonderlich bekannt ist, aber vielleicht stört die Verbindung auch einfach niemanden.
Systemsprenger ist ja auch kein schlechter Film. Man sollte nur finde ich ganz klar unterscheiden, ob man ihn als revolutionären Problemfilm bewundert oder als anständige deutsche Antwort auf ein bereits in aller Perfektion behandeltes Thema ansieht.
Ich kann mit Letzterem gut leben, aber eben auch nur jetzt, da ich mit der fehlenden Originalität von Systemsprenger abgerechnet habe. Mut hat der Film dennoch, so etwas hierzulande so gnadenlos zu inszenieren, und es ist fraglos einer der besten deutschen Filme jüngerer Vergangenheit. Aber kein Vergleich zu Mommy.
Fazit
Wer Systemsprenger mag, wird Mommy lieben. Wer Mommy mochte, wird auch Systemsprenger nicht ächten. Am besten schaut man sich beide Filme an, denn beide verdienen es. Hätte ich nur Systemsprenger gesehen, fände ich ihn vermutlich noch ein ganzes Stück besser und das ist auch in Ordnung, der Film ist stark und in jedem Fall eine Empfehlung für Freunde des schwierigen und problembehafteten Alltagskinos.
Wer die künstlerische Variante möchte, wirft einen Blick nach Frankreich.
6 von 10 Hurensohnwichsarschlöcher für Systemsprenger
- Yoraiko
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