Samstag, 25. Januar 2020

Film-Review: Coherence (2014) - Schrödingers Komet




Wikipedia:
Bei Schrödingers Katze handelt es sich um ein Gedankenexperiment aus der Physik, das 1935 von Erwin Schrödinger vorgeschlagen wurde. Es problematisiert in Form eines Paradoxons die direkte Übertragung quantenmechanischer Begriffe auf die makroskopische Welt. Das Paradoxon besteht erstens darin, dass in dem Gedankenexperiment eine Katze in einen Zustand gebracht wird, in dem sie nach den Regeln der Quantenmechanik gleichzeitig „lebendig“ und „tot“ ist. Zweitens würde, ebenfalls nach den Regeln der Quantenmechanik, dieser unbestimmte Zustand so lange bestehen bleiben, bis er von einem Experimentator untersucht wird. Dann erst würde die Katze auf einen der Zustände „lebendig“ oder „tot“ festgelegt. Beides widerspricht der Anschauung und Alltagserfahrung mit makroskopischen Dingen.

Stellt euch eine Katze in einer Box vor. Diese Katze ist so lange dort eingesperrt, bis jemand die Box öffnet. Ist die Katze darin tot oder lebendig? Sie ist beides, weil beide Möglichkeiten parallel zu einander existieren und sich erst eine von beiden Realitäten festlegt, sobald jemand die Box öffnet und nachsieht. Soweit zur bekannten Theorie.

Coherence ist ein Indie-Film durch und durch. Der 2013 veröffentlichte Film von Regisseur James Ward Byrkit hatte ein Gesamtbudget von 50.000 US-Dollar und wurde zum größten Teil im Privathaus des Regisseurs(!!) gedreht. Zum Vergleich, Fack Ju Göthe hatte ein Budget von 5 Millionen. Coherence könnte nicht günstiger produziert sein, und viel von dem Geld ging in die fähige Komponistin. Kaum ein Mensch kennt diesen winzigen, bescheidenen, verkopften Scifi-Thriller. Und doch teilt man sich gerade unter Film-Connoisseuren die Meinung, dass Coherence einer der intelligentesten, spannendsten und durchdachtesten Filme seines Jahrzehnts darstellt. Dieser Meinung schließe ich mich hiermit an. Und womit kann dieser kleine, fast von Anfang bis Ende ruhig erzählte und actionlose Kammerspiel-Film überzeugen? Mit seinem Drehbuch. Mit seiner Idee.  Nicht weniger, aber noch etwas mehr. Coherence ist der, nein DER Beweis dafür, dass man für ein großartiges Produkt, sei es nun Film, Spiel, Serie oder Buch, nicht mehr braucht als eine Idee und das Wissen, wie man diese umsetzt. Ich möchte für Freunde kurzer Texte vorweg sagen: Wenn ihr spannende, von Anfang bis Ende fordernde und vor allem anspruchsvolle Mindfuck-Filme mögt, guckt euch bitte unbedingt Coherence an. Die Laufzeit von 88 Minuten ist im Nu rum, aber wie kaum ein anderer Film VERLANGT Coherence danach, mehrmals angesehen zu werden. Zweimal. Dreimal. Vielleicht vier Mal. Manche behaupten, sie hätten ihn zehn Mal genossen und entdecken noch neue Details. Unbedingt ansehen, wenn ihr euch über eine Stunde konzentrieren könnt. Das müsst ihr nicht unbedingt, um den Film zu genießen - Aber es ist sein Hauptreiz.

Handlung:
Acht Freunde, darunter Protagonistin Emily und ihr Partner Kevin, treffen sich eines Abends nach langer Zeit mal wieder zu einem gemeinsamen Essen. Der Abend verläuft zunächst normal, es geht um das Beziehungsgeflecht zwischen den Charakteren und um einen Kometen, der in dieser Nacht sehr nah an der Erde vorbeizieht und der wohl immer, wenn er in der Vergangenheit derartig nah war, seltsames Verhalten bei manchen Menschen hervorgerufen hat. Seltsam sind auch einige der Momente, die die lange Zeit der Abstinenz zwischen den Freunden gefordert hat, so dass nicht jeder jeden noch wirklich kennt. Schließlich fällt überraschend der Strom aus, Handydisplays zersplittern und weitere obskure Ereignisse entfalten sich, während die Gruppe nach und nach feststellt, dass irgendetwas in dieser Nacht noch viel seltsamer ist als angenommen.


Ganz offen gesagt: Das muss an spoilerfreien Informationen reichen. Coherence ist einer dieser Filme, die besser wirken, je weniger man über sie weiß. Wie gesagt, das Genre ist (Sehr, sehr subtiler) Sci-fi-Thriller, das Haus in dem die Freunde sich treffen wird nur sehr selten verlassen und ganz allgemein geht es hier vor allem um die Dialoge. Wenn euch das auch nur im geringsten zusagt, ansehen. Ab hier werde ich sehr explizit spoilern, das kann und wird euch den Film verderben, wenn ihr ihn noch nicht gesehen habt.


























Coherence ist beinahe schon ein interaktiver Film einfach dadurch, dass man quasi von der ersten Minute an selbst mitdenken kann, muss und soll, um sich viele, kleine Details selber zusammenzureimen und das große Gesamtbild besser zu verstehen - Was man natürlich erst frühestens beim zweiten Sehen tut. Wenige Filme - Triangle fällt mir da sofort ein, der auch ein Mindfuck-Thriller oberster Güteklasse ist - haben eine solche Faszination, Debatte und Theorienspinnerei ausgelöst wie Coherence, und das mit geringsten Mitteln. 

Die Gruppe stellt zu Beginn schnell fest, und das auf ziemlich raffinierte und nachvollziehbare Weise, dass der Komet Paralleldimensionen vereint - Darum geht es ja komplett in Coherence. Endlose Paralleldimensionen dieses Hauses und der acht Freunde, die für eine Nacht zusammenwachsen, dabei sind wohl Zeit als auch Raum relativ, so dass am Anfang des Films Dinge passieren, die unsere Protagonisten erst am Ende tatsächlich selber ausführen. Es gibt somit Rätsel, die der Film selber auf dem Silbertablett beantwortet, aber das sind längst nicht alle. Das Drehbuch von Coherence ist von der ersten bis zur letzten Minute bis aufs kleinste Detail durchgeplant, keine Dialogzeile, keine Kameraeinstellung ist zufällig gewählt, alles hat seinen Sinn und seine Bedeutung. Nothing is random

Und wie versuchen sich die Charaktere dieses Phänomen zu erklären, dass es hunderte Versionen von ihnen selbst gibt? Schrödingers Katze - Realitäten können nebeneinander existieren. Das ist natürlich nicht die Erklärung, vollkommener Quatsch - Aber es sorgt dafür, dass man sich im Film nicht lange mit Zweifeln oder Unglaube herumschlägt - Die Paralleldimensionen sind Realität, und schnell kriecht den acht Freunden in unserer Narrative ein Gefühl der Bedrohung den Nacken hinauf - Was, wenn die Anderen Ichs uns etwas anhaben wollen? Aber was ist überhaupt unsere Narrative? Das Haus, das wir von Anfang an verfolgen? Schwierig wenn man bedenkt, dass mehrere Charaktere in den ersten zwanzig Minuten des Films bereits die Dimension wechseln und wir als Zuschauer auch verschiedene zu sehen bekommen, ohne es explizit gesagt zu kriegen - Hey, das Hemd von Charakter Kevin war gerade zugeknöpft, jetzt ist es offen. Jetzt ist nur ein Knopf zu. Gerade hatte Laurie noch größere Ohrringe. Jetzt sind sie silber, nicht mehr gold. Coherence benutzt als einzigen Hinweis auf das ständige Wechseln der Dimensionen innerhalb der Erzählstruktur eine sehr kurze Schwarzblende. Diese bemerkt man, wenn man sie auch natürlich beim ersten Mal noch nicht zuordnen kann.

Auch innerhalb des Filmes, wenn die Charaktere sich schon längst des Problems gewahr sind und zu handeln begonnen haben, ist alles durcheinander, alles verwirrend und doch nichts zufällig - Kein Charakter den wir sehen, ABGESEHEN VON PROTAGONISTIN EMILY(Bestätigt vom Regisseur in Interview) kehrt nochmal zu 'seinem' Haus zurück, wenn er es einmal verlassen hat. Es sind immer andere Versionen. Es gibt unter Fans und Theoristen Uneinigkeiten darüber, was innerhalb der Story genau einen Dimensionswechsel hervorruft - Das Betreten des 'Schwarzen Feldes' vor dem Haus oder das bloße Verlassen des Gebäudes. Auch dazu hat der Regisseur sich geäußert. Wir merken gegen Mitte und Ende des Filmes als Zuschauer auch beim ersten Mal, dass wir mitdenken und puzzlen können - Wenn Beth und Laurie darüber sprechen, wo die eine denn dieses tolle Parfüm gekauft hat und diese antwortet, können wir als Zuschauer feststellen, dass es diesen Dialog schon mal am Anfang des Filmes gegeben hat - Mit anderer Antwort.
Jedes Mal, wenn Charakter Mike das Haus betritt, ist sein Hemd anders geknöpft. Hugh verletzt sich am Kopf und bekommt ein Stoffpflaster - Mal ist es ein Plastikpflaster, mal ist er unverletzt. Die Charaktere denken sich zur Identifikation Nummern aus und benutzen blaue Leuchtstäbe - Andere Versionen ihres Ichs machen das auch, oder benutzen Rote. Um 'Ihr' Haus zu markieren, wählen sie einen möglichst zufälligen Gegenstand, den sie in eine Box legen - Nur um am Ende festzustellen, dass jede Person ihres Hauses sich an einen anderen Gegenstand erinnert. Ich will gar nicht viel weiter ins Detail gehen: Betreffend der unerreichten Komplexität und Verkopftheit von Coherence kann ich jedem, der mit seinen eigenen Gedanken am Ende ist oder sich in andere Theorien und Erklärungen hineinlesen möchte, die Coherence explained-Videos auf Youtube und VOR ALLEM die Kommentare darunter empfehlen - Ja, da sind Youtubekommentare doch tatsächlich mal sinnvoll. Auch auf Reddit findet man viel dazu und natürlich kann man sich am Ende Interviews mit dem Regisseur geben, um etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Wärmstens zu empfehlen!

Nachdem ich nun lang und breit über das Script geredet habe (Ich könnte wirklich noch zehn Seiten damit füllen, weil es einfach so unheimlich viele secrets, eastereggs und Zusammenhänge gibt die man herausfinden kann, aber das will keiner lesen) möchte ich noch auf andere Aspekte des Filmes eingehen, denn entgegen meiner eingänglichen Aussage hat Coherence sogar noch mehr als seinen intellektuellen Kern - Der Film ist größtenteils improvisiert. Es erscheint ein bisschen surreal angesichts eines solch durchdachten Plots, aber neben einem groben Drehbuch mit Anweisungen und Storyverlauf hatten die acht handelnden Personen große Freiheiten, was Dialoge und Aktionen angeht. Merken tut man das nicht, denn ALLE Schauspieler sind GROSSARTIG. Wirklich, ich kann es nicht genug betonen, wie sehr diese Indie-Schauspieler hier überzeugen und das obskure und für sie verstörende Kohärenz-Rätsel nach und nach gemeinsam mit dem Zuschauer mühsam aufdröseln. Es ist jammerschade, dass den Meisten von ihnen keine größere Karriere beschert war - Sie hätten es verdient. Meine persönlichen Favoriten waren Protagonistin Lily und Anwalt Hugh. Tolles Charisma. Da sei auch die überaus gelungene, deutsche Synchronisation erwähnt, der man gut folgen kann. 

Der Soundtrack ist zutiefst atmosphärisch und angesichts der Tatsache, dass die Komponistin hier über weite Strecken Improvisation und Kammerdialoge untermalen musste, gleich noch eine Schippe eindrucksvoller. Die surreale aber gegen Ende auch tragische Stimmung wird gut untermalt. 

Das Ende dann wartet mit einer unerwartet schwarzen, fiesen Pointe auf, die allerdings auch so eng verknotet ist wie ein Paar 2Meter-Schnürsenkel: Obgleich der Regisseur sich zum genauen Ablauf des Endes mit mehreren Lilys in einer Dimension mit seiner intendierten Version geäußert hat, gibt es unabhängig davon unzählige Theorien, wie genau da nun alles abgelaufen ist und welche Hinweise es darauf gibt - Und sein es nur die verdammten Socken, die Lily am Ende trägt. DIE SOCKEN!! 




Fazit

Coherence ist kein Film - Coherene ist ein Puzzle. Ein interaktives Gesellschaftsspiel, das man selbst mit 88 Minuten Konzentration nicht mit einem Mal knacken kann. Ich habe den Film jetzt zwei Mal gesehen und freue mich schon aufs nächste Mal, denn James Wards' Werk inspiriert wie kaum ein Zweites das mehrmalige Sehen, so dass man von diesem kleinen Indiefilm auch mehr hat als man erst denkt - Coherence ist so viel mehr als die Summe seiner Teile. Das quasi nonexistente Budget sieht man dem Streifen zu keiner Zeit an, die Kamera-Arbeit ist hochwertig, die Musik auf einem Level mit AAA-Produktionen und die Schauspieler begnadet. Trotz der Tatsache, dass in Coherence fast nur gesprochen wird, gibt es keinen Moment der Langeweile. Alleine schon, weil das Gehirn permanent arbeiten muss, um mitzuhalten. Viele Hollywood-Schinken mit mehr Budget könnten und sollten sich hier eine Scheibe abschneiden, denn Coherence ist, nur durch seine Idee und Sorgfalt, eine modere Ikone, die ein ganz besonderes Filmerlebnis geschaffen hat. Eine sehr hochtrabende Verblümung eines so bescheidenen Filmes, aber ich denke das werdet ihr verstehen wenn ihr Coherence ein, zwei Mal gesehen habt. Was hoffentlich der Fall ist, wenn ihr bis hierhin gelesen habt. Außer Triangle und Coherence fällt mir spontan kein weiterer Film dieser Art und Klasse ein. Unbedingt ansehen, auch zu zweit oder in der Gruppe - 
Falls ihr euch selbst noch trauen könnt.


9/10 Glühsticks für Coherence

- Yoraiko

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