Freitag, 4. Oktober 2019
Kinderwagen-Terroristen
Unterhalten wir uns doch mal über ein Problem des öffentlichen Verkehrsnetzes, in diesem Fall Leipzigs, an dem zur Abwechslung mal nicht (wirklich) die LVB Schuld ist - Kinderwagen-Terroristen. Der Name mag etwas extrem und populistisch gewählt sein, aber er ist in meinem Kopf schon vor Jahren bezüglich der Thematik entstanden und war das Erste, was mir zu dieser Menschengruppe einfiel.
Das Grundprinzip ist simpel: Der Platz in Straßenbahnen ist begrenzt. SEHR begrenzt. In der Regel bieten die durchschnittlich 12 - 15 Meter langen Abteile viel zu wenig Platz für die mittlerweile über 500.000 Einwohner Leipzigs, von denen ein beträchtlicher Teil das öffentliche Angebot der Trams aktiv nutzt. Zu keiner Zeit spürt man das mehr als zum Berufsverkehr, zu besonderen Anlässen wie der Buchmesse, zu Schlechtwetter das den Leuten die Lust am Laufen nimmt, zu Gutwetter das den Leuten die Lust am Laufen nimmt, oder natürlich und selbstverständlich, wenn mal wieder eine Bahn zwanzig Minuten Verspätung hatte, und sich die potentiellen Fahrgäste an der Haltestelle gesammelt haben wie Fliegen im Spinnennetz. An Sitzplätze ist in diesen nur all zu alltäglichen Ausnahmesituationen gar nicht zu denken, und um jeden Stehplatz wird gekämpft wie zur Zeit der Gladiatoren. Aber wie heißt es doch so schön im Klassiker Jurassic Park: Das Leben, uh, findet einen Weg. Und das tut es, am Ende des Tages steht man gedrängt, gequetscht, mit den Gerüchen anderer Leute bombardiert, unangenehmen Situationen ausgesetzt im öffentlichen Gefährt, aber man steht. Alles könnte so schön zufriedenstellend ein.
Und dann kommen sie.
Mütter (Oder seltener Väter) mit Kinderwagen. Zu Dutzenden regnen sie auf die ohnehin schon überfüllten Straßenbahnen hinab, und blockieren mit ihren Minimensch-Transportgeräten den Platz, der sonst vier oder fünf Personen eine Zuflucht bieten würde, und das mit einer Selbstverständlichkeit, als gehöre hier alles ihnen -
Na gut, gewissermaßen ist das auch so.
Die begehrtesten Stehplätze in einer Straßenbahn sind, das weiß jeder öffentliche Verkehrsteilnehmer nach ein zwei Jahren, die großen, eckigen Stellplätze. Stellplätze für Fahrräder, Rollstühle, oder eben, na ja, Kinderwagen. Diese Stellplätze haben ein mal den Vorteil, sehr breit und tief zu sein, so dass hier drei Personen nebeneinander stehen können, und auch noch welche vor ihnen Platz haben. Was aber den eigentlichen Reiz dieser Plätze ausmacht ist, dass sie ein gesonderter Bereich der Bahn sind - Im Gegensatz zu ALLEN ANDEREN Stehplätzen in der Straßenbahn steht man hier niemandem im Weg herum und muss sich so nicht den unbehaglichen Momenten aussetzen, die einen dann erwarten. Wir alle kennen es - Die Straßenbahn ist rapplevoll, wir haben nur noch einen Platz mitten im Gang zwischen vier Sitzplätzen erwischt und jemand hinter uns möchte raus und muss an uns vorbei. Mit aller Mühe quetschen wir uns also beiseite, reiben unfreiwillig unseren unansehlichen Körper an der neben uns sitzenden Person, treten fünf Personen sprich-, und wortwörtlich auf die Füße, bis endlich alle Aussteiger passiert sind, und wir nicht mehr im Weg herumstehen - Bis zur nächsten Haltestelle.
Der Stehplatz in einer Straßenbahn vermittelt einem Demut - Man lernt das Gefühl kennen, gehasst zu werden. So also fühlen sich Raucher, AfD-Wähler, Fleischesser und Leute die Naruto gut finden. Kein schönes Gefühl. Ein schönes Gefühl aber ist die sichere Zuflucht der Stellplätze, die von den Gehwegen innerhalb einer Tram losgelöst sind wie eine Auszeit-Zone am Spielfeldrand, von der aus wir niemanden behelligen und an uns niemand vorbei will. Dann aber Kinderwagen.
Das Problem mit Kinderwagen in Leipzig ist ein Besonderes - Alle Straßen sind voll mit ihnen. Mehr noch als in anderen Großstädten, das haben mir auch externe Gäste und Touristen bestätigt, sieht man Mütter mit ihren Schützlingen hier ÜBERALL herumwuseln. Und wer wuselt, der will auch fahren. Ist ein Kinderwagen in Sicht, heißt es für die Schutzsuchenden der Stellplätze automatisch, stöhnend die Segel zu setzen und sich zu verpissen. Und ja, selbstverständlich - Es sind Plätze, die für die Kinderwagen reserviert sind, also ist das nur gut und recht, richtig? FALSCH! Kinderwagen-Terroristen haben, wie alles Unangenehme, die Angewohnheit in Rudeln aufzutauchen. Da sieht man sich also als Stehender oft nicht mit einem Kinderwagen konfrontiert, sondern mit vier bis fünf pro Bahn. Oft werden von Kinderwagen nicht nur die Stellplätze blockiert, sondern auch die davor liegenden Türplätze, so dass man sich beim Aussteigen vorsichtig und unangenehm an den Kinderwagen vorbeidrücken muss, unter den anklagenden Blicken der Mütter die glauben, sie könnten hier alles machen, nur weil sie eine kleine, scheißende, schreiende Biobombe dabei haben.
Und da sind wir auch bei einem anderen Aspekt angekommen, der Kinderwagen-Terroristen ihren Namen verleiht: Entitled. Für dieses englische, sehr aussagekräftige Wort gibt es keine richtige Übersetzung, aber das, was ihr am nächsten kommt, ist berechtigt. Wer sich entitled fühlt, der geht davon aus, dass er das kompromisslose Recht auf etwas hat. Das beschreibt genau Kinderwagen-Fahrerinnen - Mit einer Selbstverständlichkeit platzen sie mit ihren klumpigen Gefährten in überfüllte Straßenbahnen, lassen sich meistens nicht mal zu einem "Könnten sie bitte ein Stück beiseite gehen?" herab sondern schieben ihre Maschine des Todes selbstgefällig zwischen die in der Regel auseinanderhuschenden Massen, oder bedrohen diese mit ihrem "Das ist MEIN Kinderwagenplatz da!"-Blick, falls sie es nicht tun.
Und das Blöde ist: Man kann dagegen nicht mal was sagen. Ich meine, es sind nun mal Mütter mit Kinderwagen, was sollen sie denn machen, die kleinen Bälger draußen lassen? Nein, also das geht natürlich wirklich nicht, dann würden die ja die Gleise blockieren. Aber dennoch ist es sehr anstrengend und anmaßend, wie viele Kinderwagenmütter sich verhalten, und mit welcher Selbstgerechtigkeit sie glauben, die Straßenbahn gehöre ihnen, obwohl sie meistens dutzende und aberdutzende Menschen blockieren, und als Mutter selbstverständlich auch noch einen nahegelegenen Sitzplatz angeboten bekommen wollen, man müsse ja schließlich auf das Kleine aufpassen, dem sonst sicher Flügel wachsen und es aus dem Fenster befördern.
Sicher gibt es noch viele andere, äußerst unangenehme Subkategorien des Platz-Terrorismus im öffentlichen Verkehr, darunter bekannte Vertreter wie alte Menschen, Menschen mittleren Alters bei denen man sich nicht sicher wäre ob es höflich oder unhöflich wäre ihnen einen Sitzplatz anzubieten, Kinder, Kindergartengruppen, Menschen mit Behinderung die aber eindeutig nicht ihre Stehfähigkeit beeinträchtigt, und so weiter und so fort. All diese Fressfeinde des ganz gewöhnlichen, gesunden Kleinbürgers ohne tragische Hintergrundgeschichte, der aber dennoch stinkend faul ist, begegnen einem zwangsweise in der täglichen Bummelfahrt mit den gelb-blauen Tramgefährten, aber keinen davon nahm ich über die Jahre so massiv störend, so unverschämt, so entitled wahr wie Kinderwagen-Terroristen.
Natürlich muss man der Fairness halber auch wieder auf die Mitschuld der LVB zu sprechen kommen - Der Platz in den Bahnen ist schlichtweg nicht ausreichend. Das weiß man seit 10 Jahren, die Anzahl der Fahrgäste steigt mit jedem Weiteren. Neue, modernere Straßenbahnen werden gebaut, aber keine davon mit mehr Plätzen ausgestattet als die Letzte, und die einzig vernünftigen Stehplätze bis zum heutigen Tag sind nun mal die Stellplätze. Ein Designfehler der LVB, unter denen Stehende leiden und den Kinderwagen-Terroristen gnadenlos nutzen und dafür - teilweise zurecht, teilleise zu zu Unrecht - die Rolle des Superschurken aufgebührtet bekommen. Und dabei bräuchte es nicht mal mehr Sitzplätze, liebe LVB - Straßenbahnen, die nicht nur aller zwanzig Minuten fahren und sich dann auch noch um eine halbe Stunde verspäten würden schon helfen. Aber wir kommen doch ein wenig vom Thema ab.
Ich glaube, zu eben diesem Thema wurde jedoch so allmählich genug gesagt. Kinderwagen in Straßenbahnen sind, wie jede besondere Spezies des Tram-Nutzers, anstrengend. Sie nehmen unheimlich viel Platz weg, beinhalten schreiende, übelriechende kleine Monster, blockieren die begehrenswertesten Plätze so wie einen Großteil der Gänge innerhalb der Bahn, und die zunehmende und selbstverständliche Kaltschnäuzigkeit und Arroganz der schiebenden Mütter hilft auch nicht.
Aber was tut man als höfliches, wohlerzogenes, weltoffenes, tolerantes und aufmerksames Mitglied unserer Gesellschaft?
Man nickt lächelnd, tritt beiseite und denkt sich seinen Teil.
Das beschwichtigt die Kinderwagen-Terroristen.
Würde das doch nur bei allen anderen auch so einfach funktionieren.
- Yoraiko
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