Dienstag, 22. Oktober 2019
Erwachsen sein
Das ist das erste Bild, das man bei Google zu sehen bekommt, wenn man 'Erwachsener' eingibt. Na gut, es ist minimal bearbeitet. Den dazugehörigen Artikel und dessen Sinnhaftigkeit möchte ich hier lieber nicht weiter besprechen. Stattdessen frage ich mich - Was ist ein Erwachsener eigentlich? Und was macht ihn aus?
Was bedeutet es, erwachsen zu sein?
Dafür fand und findet man in verschiedenen Zeiten und Kulturräumen ganz verschiedene Antworten. Ganz allgemein glaube ich, dass die Antwort auf diese Frage früher einfacher zu finden war - Erwachsen war man, wenn man alt genug war, um mit dem Vater auf die Jagd zu gehen, und das Essen auf den Tisch zu bringen. Wenn der Knabe zum Manne wurde, endlich in der Lage, seine Familie zu beschützen. Erwachsen war man(n), wenn man arbeiten und kämpfen konnte. Für die Mädchen bedeutete Erwachsen sein in späteren aber von unserem Standpunkt aus noch immer sehr frühen Zeiten vor allem Heiraten. Verheiratet werden. War ein Mädchen alt genug (Oder eben auch nicht) um verheiratet zu werden, so war ihre Kindheit vorbei. In weniger unangenehmen Fällen begann das Leben einer Frau für ein Mädchen wenn es in der Lage war sich um ihre Familie zu kümmern, einen Partner zu suchen, die damals klassischen Aufgaben der Frau zu übernehmen.
Alles war so simpel, einfach und trist. Heute ist alles kompliziert geworden.
Wir hier in Europa haben das Glück, nicht mehr um unsere Existenz fürchten zu müssen, zumindest ist das in der Regel so, auf einer ganz grundsätzlichen Ebene. Bitte macht es mir nicht zum Vorwurf, dass ich hier sehr verallgemeinere. Aber wir müssen nicht mehr auf die Jagd gehen, um zu essen, müssen nicht mehr mit vierzehn Jahren den Vater begleiten, wenn er seinem Tagwerk nachgeht, und werden (In Europa!) auch nicht mehr als elfjährige Mädchen wegverheiratet. Woran wissen wir also, dass wir erwachsen sind? Daran, dass wir die in Deutschland mit 18 Jahren festgesetzte Volljährigkeit erreicht haben? Ich weiß aus Erfahrung, und jeder 18+Jährige wird mir da sicherlich zustimmen, dass es nicht so einfach ist. Das Kind verabschiedet sich nicht mit dem achtzehnten Jahr, zuckt mit den Schultern und lässt sich nie mehr blicken, oft ist es noch da. In unseren heutigen, privilegierten Zeiten muss man sich vielleicht sogar fragen, ob es überhaupt jemals geht.
Ich bin 25 Jahre alt, und damit alles andere als ein Jugendlicher, auch den Begriff 'Junger Erwachsener' rechne ich mir nicht mehr an. Ich bin, nach jeder Definition und jedem Verständnis, mit allen Pflichten, Erwartungen und Privilegien, erwachsen. Aber ich könnte mich nicht weniger erwachsen fühlen. Ehrlich gesagt warte ich immer noch darauf, dass die Reife einsetzt, und sich mir wie sich lösende Scheuklappen die ganze Weisheit und das Verständnis des Lebens und des Erwachsenseins offenbart.
Von Erwachsenen werden bestimmte Dinge erwartet. Dass sie einige Gerichte kochen können. Dass sie sich mit Ämtern, Gesetzen und Steuern auskennen. Dass sie sich mit der Wohnungssuche, Mietverträgen und Kautionen auskennen. Dass sie eine Steuererklärung machen können. Dass sie feste Pläne und Ziele, Perspektiven und Marschrouten für ihre Zukunft besitzen, auf denen sie sich bewegen. Dass sie einer anständigen Tätigkeit nachgehen, die sie bestenfalls mit Leidenschaft erfüllt. Dass sie einen Partner haben. Dass sie die Bettwäsche ordentlich zusammenlegen und nähen können. Dass sie kleine Reparaturen und Umbauten selbstständig vornehmen können. Dass sie organisieren können. Dass sie ein breites Allgemeinwissen besitzen. Dass sie sich mit Banken, Zinsen, Kreditkarten und Aktien auskennen. Dass sie wissen, wo man welche Kleidung kauft, oder wo man selbstverständliche Dinge des Alltags wie Handtücher oder Briefumschläge kauft. Dass sie wissen, wie man ein Paket versendet. Dass sie wissen, wie man einen Handyvertrag abschließt und was alles dazu gehört. Dass sie einen Führerschein besitzen. Dass sie mindestens einen Anzug haben und wissen, wo man ordentliche Anzüge überhaupt kauft. Dass sie ihre Wohnung sauber und gepflegt halten und wissen, worauf es dabei ankommt. Dass sie wissen wie man Anzeige erstattet. Dass sie wissen wie man seine Unterlagen richtig sortiert und ordnet. Dass sie sich mit Krankenkassen und Versicherungen auskennen. Dass sie Dating-Erfahrung haben und wissen, wie man eine Frau umwirbt. Dass sie wissen, wie man guten Sex hat. Dass sie wissen wie sie für ihre Rente oder Notfälle vernünftig vorsorgen. Dass sie wissen, wie man eine kaputte Heizung erkennt. Dass sie wissen, wie man einen Dosenöffner benutzt. Dass sie wissen, wie man eine Bewerbung, einen Lebenslauf und einen Steckbrief richtig schreibt, und ein Vorstellungsgespräch absolviert. Dass sie sich für Politik interessieren und wenigstens ungefähr über das aktuelle Geschehen im eigenen Land Bescheid wissen. Dass sie wissen, wie man wählen geht. Dass sie wissen, wie man sich richtig pflegt, wie oft man in der Woche Haarshampoo benutzt und welche Cremes gut für die Haut sind. Dass sie wissen worauf man beim Kauf von PC's und Notebooks achten muss. Dass sie wissen, wie man eine Lampe anschließt. Dass sie wissen, wie man Wäsche richtig wäscht. Dass sie wissen, wie man richtig malert.Dass sie wissen, wie man eine Bohrmaschine benutzt.
Ich bin 25 Jahre alt und damit ein Erwachsener. Und ich habe mich in den letzten sieben bis acht Jahren immer wieder gefragt: Woher weiß man das? Auch meiner Mutter habe ich, immer dann wenn ich etwas eigentlich Selbstverständliches nicht wusste und sie es mir haarklein erklärt hat, anschließend irritiert die Frage gestellt:
"Aber woher zum Geier SOLL MAN DAS WISSEN?!"
Ihre Antwort blieb stets die Gleiche:
"So was weiß man einfach."
Ja. So was weiß man einfach. Nur woher?
Die Antwort kenne ich natürlich von mir selbst: Aus Erfahrung. Viele der Dinge dort oben weiß ich mittlerweile. Nicht, weil sie mir irgend jemand erklärt oder gezeigt hätte, sondern weil ich sie einfach selbstständig angehen, dabei scheitern und daraus lernen musste um sie zu begreifen. Doch genau so viele Dinge der Aufzählung dort oben sind mir ein vollkommenes Rätsel, und noch tausend Sachen mehr an die ich gerade nicht denke. Ich habe absolut gar keine Ahnung, wie eine Steuererklärung funktioniert oder was das überhaupt ist. Ich mag meinen Beruf nicht. Ich bin Single und habe kaum bis keine Erfahrung auf diesem Feld. Ich kann nicht Nähen und bin handwerklich eine Mandarine. Ich besitze keinen Führerschein und sehe auch nicht den Sinn, mir einen zu holen. Wo bekommt man einen anständigen, bezahlbaren Anzug her? Ich habe absolut keinen Schimmer. Im Kaufhaus? Auf Amazon? Im Markenladen?? Ich habe in etwa so viel Ahnung von Politik oder auch nur dem aktuellen politischen Geschehen wie von Kernphysik. Ich kann nicht mal einen Knopf annähen und weiß nicht worauf ich beim Kauf von Gerät X und Y achten sollte. Und woher sollte ich es auch besser wissen? Es wurde mir nie beigebracht. Nicht, weil meine Mutter so versagt hätte, im Gegenteil - Sie war sehr bemüht, etwas aus mir zu machen. Aber entweder es ergab sich nicht oder es war so abwegig, dass es einfach nie zur Sprache kam. Und dann ist man erwachsen und wird angesehen wie ein Alien, weil man scheinbar selbstverständliche, vorausgesetzte Standards des Lebens nicht erfüllt, obwohl sich niemand in unserer Gesellschaft abgesehen vom Internet die Mühe macht, es uns mal zu erklären.
Wir durchlaufen von Kindesbeinen an an bis wir an der Tür zum Erwachsensein klopfen ein Schulsystem, das in Deutschland definitiv nicht das Schlechteste ist. Warum unser Schulsystem meiner Meinung nach dennoch reformiert gehört, hoffnungslos veraltet ist und keinen Sinn ergibt, schreibe ich in einem anderen Artikel. Wichtig ist erst mal nur: Wir lernen Mathematik und abstrakte Geometrie, wir lernen wie man Reimschemas in Gedichten erkennt und wie Magnete aufeinander reagieren. Nichts davon brauchen wir im Leben wirklich. Okay nein, das stimmt so nicht: Mathematik ist wichtig im Alltag, sehr wichtig. Ich korrigiere mich: Mathematik nach der Grundschule brauchen wir nie wieder im Leben wenn wir nicht gerade Architekt oder Einzelhändler werden. Ich bin 25 und habe in meinem Leben noch nie, kein einziges Mal, außerhalb der Schule Bruchrechnung oder Geometrie gebraucht. Vielen Dank also für diese verschwendete Lebenszeit. Was ich allerdings gebraucht hätte, sind die Regeln und Anforderungen unserer Gemeinschaft. Aber dafür gibt es ja auch ein Fach - Gemeinschaftskunde. Damals als Heranwachsender freute ich mich auf mein erstes Mal in diesem Fach, weil ich es für ein sozial-bildendes Fach hielt, das einen auf allgemeine Dinge vorbereitet. Leider ist es das nicht, wie wir alle wissen, der Name des Schulfaches sollte Politkunde heißen, denn es geht meistens nur um genau das, die (deutsche) Politik. Ein Schulfach, das uns aus das Leben in der Gesellschaft vorbereitet? Das suchen wir vergebens. Damals war das anders - Da wurde das Kind ausgiebig auf sein Leben als Erwachsener vorbereitet, praxisorientiert, und es wurden ihm nur Dinge beigebracht, die es brauchen würde - Jagen. Sammeln. Beschützen. Bauen. All diese einfachen Dinge. Warum kann es heute nicht mehr so sein? Weil die Welt komplexer geworden ist. Und weil irgendwann das Gelehrtentum und der Kulturelle Anspruch hinzu kam. Heutzutage interessiert das Schulsystem sich nicht mehr für tatsächliche Werte oder die Realität da draußen, es schert sich nur um zahlen, Statistiken, Lehrpläne und einen kulturellen Grundbaustein. Selbst die vermittelten Inhalte sind meist nicht mehr als eine Grundlage - So habe ich meine ersten Gehschritte in Englisch natürlich in der Schule gemacht, aber erst als ich angefangen habe, englische Videospiele, Serien, Bücher und Anime zu konsummieren, habe ich aufgehört die Sprache zu hassen und sie mir beigebracht. Das war ich. Nicht die Schule. Die Schule versagt, sie nimmt uns die wertvollste Zeit im Leben, um unsere Köpfe mit Prüfungswissen zu füllen.
Und da wundert man sich, dass uns aktuell eine Nachfolgegeneration von sozial-inkompetenten, depressiven und verkommenen Erwachsenen bevorsteht.
Man könnte die Ausgangsfrage auch umdrehen und sich wundern - Was ist ein Erwachsener nicht? Was wird von einem Erwachsenen nicht mehr erwartet, ab wann darf man dieses und jenes Verhaltensmuster nicht mehr an den Tag legen? Wann kommt für mich der Tag, an dem ich in der Straßenbahn keine Playstation oder Nintendo mehr spielen werde, weil es mir zu unangenehm ist? Wann werde ich öffentlich keine Manga oder Comics mehr lesen, weil ich nicht automatisch wie ein Perverser aussehen will? Schon seit 2-3 Jahren nehme ich davon nichts mit in die Öffentlichkeit, was auch nur ansatzweise anzüglich sein könnte. Wann muss ich aufhören, meine Pony-, und Anime-Shirts zu tragen und diese gegen Hemd samt Krawatte eintauschen? Ab wann muss ich mich schuldig fühlen, weil ich einem hübschen Mädchen hinterhersehe und nicht mehr einschätzen kann, wie jung sie ist? Ab wann ist es peinlich, Anime-Poster an meinen Wänden zu haben? Ab wann muss ich mich dafür schämen, meine Mutter einmal in der Woche zu besuchen und mit ihr zu kochen? Ab wann muss ich mich dafür schämen, sie in vielen Dingen um Rat zu fragen? Ab wann wird man mich als Erzieher irritiert ansehen wenn ich sage, ich bin single? Ab wann wird man es mir vorwerfen, dass ich noch immer nicht weiß wohhin mit mir im Leben? Ab wann darf ich nicht mehr weinen, einfach weil mir danach zumute ist? Ab wann werden mich fremde Personen an öffentlichen Plätzen wie Supermärkten und Ämtern nicht mehr mit 'Der junge Mann' ansprechen? Ich überspitze das Ganze ein wenig, aber jetzt schon mir 25 fühle ich mich zu alt, um manche Dinge zu tun. Natürlich sagt man, man solle sein inneres Kind nie ganz abschreiben und jeder bleibe bis ins hohe Alter ein Kind, aber wenn wir ehrlich sind sind das Floskeln, die uns von der morbiden Realität ablenken sollen. Von Erwachsenen (Männern) wird Reife und eine gefestigte Persönlichkeit erwartet, aber die Wahrheit ist, dass viele vielleicht einfach noch nicht so weit sind und sich verloren fühlen. Irgendwann sind bestimmte Züge nun mal abgefahren, das kann man schön reden wie man möchte - Sei es nun das Bestreben, die Liebe fürs Leben zu finden, die Tätigkeit zu entdecken die einen erfüllt oder auch seinen Platz in der Welt festzustellen.
Für all das ist es irgendwann zu spät.
Und ich fühle, dass ich persönlich diese Grenze sehr, sehr bald erreiche. Alt zu sein. Erwachsen.
Bedauerlicherweise nehmen wir die Nachteile, Lasten und Sorgen dieses Zustandes zwangsweise auf uns, während uns die Vorteile - Manchen von uns - versagt bleiben. Und wir fragen uns nach wie vor, wie man diese verdammte Dose Kidney-Bohnen aufbekommt, sobald der wackelige Ziehgriff abgerissen ist, allein und in Unterhose, in unserer kleinen, staubigen Single-Küche.
Das Erwachsensein ist irgendwie ganz schön traurig, oder?
- Yoraiko
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