Donnerstag, 11. Juli 2019

Kurzgeschichte - True Love Waits



Ihr dunkelroter Schal. Sanft umschlang er ihren weißen Hals so natürlich, als hätte er nie etwas Anderes getan. Ihre orangene Wollmütze. Verschmolzen mit ihrem rotblonden Haar, als wöllte sie die einzigartige Faszination einer Abendsonne in ihre Schranken weisen. Ihre zierlichen, und doch so starken Hände, die es mit wenigen Bewegungen vermochten, die Kälte aus allem zu ziehen, das sie berührten. Und ihr nur allzu oft wahnhaft-anmutendes Katzengrinsen, das alle anderen Mundwinkel unweigerlich mit sich nach oben zog. Sie ist vor mir, und ich erkenne sie trotz der Dunkelheit so klar, als würden wir wieder in dem kleinen Café sitzen, in dem mir ihre beinahe unnatürlich-grauen Augen, ihre wie in einem ekstasisch-angefertigten Kunstwerk perfekt verteilten Sommersprossen und ihr roter Schal zum ersten Mal aufgefallen sind. Selbst jetzt, da ich hier stehe, verstehe ich kaum wie ich den Mut aufbringen konnte, das Treffen dieser Freundesgruppe zu besuchen. War es Verzweiflung? Hoffnung? Ich konnte den Unterschied zwischen beidem noch nie ausmachen, doch mir war in jenem Moment bis heute klar, dass meine Anwesenheit an diesem Tag zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort die beste Entscheidung meines Lebens war. Sie war voller kindlichem Eifer dabei, an einem grünblauen Lollipop mit keksiger Karamellschicht herumzuknabbern. Ich höre die leisen Knuspergeräusche, als säße ich wieder neben ihr.


I’m not living

I’m just killing time

Your tiny hands

Your crazy kitten smile


Ich war immer und bin auch jetzt noch der Meinung, dass ich bis zu diesem Tag nicht gelebt habe. Ich habe nur zwanzig Jahre lang Zeit totgeschlagen. Es dauerte zwei Stunden, bis wir miteinander gesprochen hatten. Du hast mir deinen angebissenen Lollipop angeboten. Es dauerte zwei Wochen, bis wir immer nebeneinander saßen. Du bestandest darauf. Es dauerte zwei Monate, bis wir uns täglich sahen. Du hast mich besucht. Es dauerte vier Monate, bis wir uns küssten. Du hast deine Arme um meinen zitternden Körper gelegt und mich beruhigt.

Acht Monate folgten. Acht Monate, die in ihrer Essenz mehr waren, als es jedes Jahr davor zusammen hätte sein können. Doch eben diese Jahre hatten ihren Zoll in mir gefordert - Ich war kaputt. Zu kaputt. Und du warst die Einzige, die das gesehen hat. Du wolltest mich retten. Immer. Jedes Mal, wenn ich dich angeschrien habe, wenn ich dir die furchtbarsten Dinge an den Kopf geworfen habe, dich weggestoßen und verletzt habe, in meiner krankhaften Sucht nach deiner Liebe, hast du nur gelächelt und geflüstert “Ich werde dich nicht verlassen. Was immer du auch tust.”

Ich glaube nicht an Übernatürliches. Aber ich glaube fest daran, dass deine Sanftheit und Güte nicht natürlich waren. Auch jetzt noch, da ich deinen dunkelroten Schal um meinen Hals spüre, und dir in deine schneegrauen Augen sehe. Um dir etwas zurückzugeben, gab ich mir alle Mühe - Ich wusch und massierte deine geschwollenen Füße, wenn du vom Training kamst, ich verkleidete mich mit deiner Nichte, ich ging hinaus, wann immer du es wolltest. Ich überwand mich, hinaus zu gehen. Unter Menschen. Auch ich wollte gerettet werden. Und in dem Moment, in dem du mir deinen selbstgestrickten Schal um den Hals gelegt und mir mit einer Umarmung ins Ohr geflüstert hast, dass du froh bist, dass ich geboren wurde, wusste ich, dass ich es werde.



And true love waits

In haunted attics

And true love lives

On lollipops and crisps


Ich habe oft und lange darüber nachgedacht, wann genau es war, dass du aufgegeben hast. Du hast gekämpft. Wirklich, das hast du. Ich denke, ich kann behaupten, ebenfalls gekämpft zu haben. Nicht genug. Ich habe es dir nie leicht gemacht, keinen einzigen Tag lang. Um fair zu sein, war das erste, was ich dir sagte, als du mich geküsst hast, dass ich das schwächste Lebewesen bin, dem du jemals begegnen wirst. “Dann muss ich eben umso stärker sein”. Weißt du, mir würde niemals einfallen, eine Krankheit oder meine Psyche als Ausreden für das zu nutzen, was ich getan habe. Deine Liebe und deine Güte abzublocken und zu schänden war eine bewusste Entscheidung. Dich zu verletzen und zu zerstören waren bewusste Entscheidungen. Dich immer und immer wieder zu testen war eine bewusste Entscheidung. Doch was brachte mich zu diesen? Liebe? Selbsthass? Egoismus? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass du deine schier endlose Hoffnung nicht in dem Moment verloren hast, in dem ich dich zerstört habe. Nicht in dem Moment, in dem ich mich umzubringen versuchte. Du hast sie verloren, als dir klar wurde, dass du machtlos bist. Als du mir sagtest, dass wir uns nicht mehr sehen werden, war in deinen Augen kein Hass, kein Vorwurf und mit Sicherheit keine Erleichterung. Da waren nur Tränen.

“Ich kann dich nicht retten” hast du geschluchzt. Und dass es dir leid tut. Immer wieder “Es tut mir leid.” Ich habe es nicht verstanden. Ich habe nur gesehen, wie du mich zurücklässt. Erinnerst du dich, wie ich dich angefleht habe?

I'll drown my beliefs

To have your babies

I'll dress like your niece

And wash your swollen feet


Geh nicht. Bitte geh nicht. Ich tue alles, nur geh nicht. Ich flehe dich an. Lass mich nicht allein. Ich kann mich ändern. Ich werde mich ändern. Nur geh nicht. Geh nicht.

Man versteht den wahren Wert einer Sache erst dann, wenn man sie nicht mehr hat.

Ich nahm deine Wärme und deine Zuneigung irgendwann als selbstverständlich hin. Ich bin davon ausgegangen, dass deine Kraft tatsächlich endlos sein muss. Aber wie wir beide feststellen mussten, bist auch du nur ein Mensch. Ein Mensch, den ich gebrochen hatte, wie ich es war, und du wusstest, dass wir einander nicht gut taten. Professionelle Hilfe musste ich aufsuchen. Jemand, der mir wirklich helfen könne. Ich aber wollte davon nichts hören und flehte nur weiter. Flehte, bis du stumm wurdest. Auch jetzt wieder, wo wir beide allein hier sind, bist du stumm. Dabei gäbe es doch noch so viel, das wir einander sagen könnten.

Just don't leave

Don't leave


Don't leave

Don't leave


Die folgenden Wochen waren zweifelsohne die schlimmste Zeit meiner Existenz, und ich habe weit mehr als nur einmal versucht, diese zu beenden. Aber habe ich es getan? Nein. Du weißt ja, ich war schon immer ein Feigling. Nicht einmal das konnte ich durchziehen. Stattdessen habe ich jeden Tag geweint, stundenlang in mein Kissen geschrien, mich aufgeschnitten, alles in meiner Wohnung zertrümmert und dir tausende Nachrichten geschrieben. Ich erinnere mich an sehr wenig aus dieser Zeit, aber eines, das weiß ich noch - Ich bin jeden Abend mit deinem Schal in meinen Händen eingeschlafen. Dein Duft war noch immer daran. Er beruhigte mich.

Just don't leave

Don't leave


Don't leave

Don't leave


Wie wir beide jetzt wissen, können wir ohne einander nicht mehr leben. Du bist mein Leben. Und ich wurde zu deinem. Du bist Alles, und ich Nichts. Du bist die Liebe meines Lebens. Meine Wahre Liebe. Wie hätte ich ohne dich weitermachen können? Wie hätte ich weiterleben sollen, wissentlich, dass alles, was von nun an kommt, nur eine farb-, geruch- und reizlose Version des Lebens sein wird, das wir zusammen hätten führen können? Mein Lebenswille ist mit dir erloschen.

Man sagt immer, wahre Liebe währt ewig. Wie lange aber währt wahrer Hass? Dein roter Schal ist nun um meinen Hals gewickelt. Doch auch dein Hals ist dunkelrot. Dein leerer Blick und deine blassen Wangen sind noch immer tränenverklebt.

Du hast nicht gefleht. Du hattest keine Angst. Und selbstverständlich… hast du mir nichts vorgeworfen. Du hast dich nur entschuldigt. Immer und immer wieder.

So wie ich deine wundervolle Seele, die ich liebe und hasse, in meinen Erinnerungen widerhallen lasse, schließe ich meine Augen und trete langsam einen Schritt nach vorne, herunter vom Stuhl, wohlwissend, dass ich nicht an den selben Ort gelangen werde wie du. Es gibt nur eines, das ich dir noch sagen möchte. Nur eines, das ich niemals zu dir gesagt habe.



Danke.




Link zur originalen Datei: True Love Waits

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