Dienstag, 23. Juli 2019

Kurzgeschichte - Mother and Daughter





Es begann mit einer Tochter und endete mit einer Mutter. War sie zunächst noch neugierig, so war sie schließlich grausam. Eine Unterscheidung zwischen beidem zu treffen, Neugier und Grausamkeit, hat sich seit jeher als schwierige Aufgabe erwiesen, wie ihre Geschöpfe mir immer und immer wieder gezeigt haben. 

Am Anfang war die Welt. Die Welt welche ich für uns erschuf, nachdem wir unsere eigene verlassen hatten. Gut gehütet in ewiger Schwärze, die sie später als ‘Universum’ bezeichneten, bildete sie die erste von vielen hundert anderen Welten und ‘Universen’ die ich kreierte. Es war das Schicksal eines jeden von uns, der seine Heimat verließ, um selbst zu erschaffen. Meine Tochter war jung, sehr jung, als ich die Erde vollendet hatte. Doch ihr missfiel die Dunkelheit und Trostlosigkeit des sie umgebenden Raumes, also erschuf ich für sie das Sonnensystem. Es gefiel ihr, und sie beschäftigte sich zunehmend mit meiner ersten Welt. Sie fand Gefallen daran, und der ihr angeborene Drang zu schöpfen erwachte, viel, viel früher als es die Regel war. Sie wollte sich um ‘Erde’ kümmern. Ich hatte bisher nicht den Schritt gewagt, Leben zu formen, und dennoch war die Verantwortung immens. Unvorstellbar für ein unreifes Wesen wie sie. Aber sie ließ nicht nach. Sie schmückte das Dunkel mit Lichtpunkten, die sie Sterne nannte, sie erschuf nebelartige Gebilde mit den Farben unserer Heimat, und sie trug viele Ideen zu meiner ersten Lebensform bei, die ihre Kinder später ‘Dinosaurier’ tauften. Der Glanz in ihren Augen wurde mit der Zeit heller, eindringlicher, blendender. Ich realisierte, dass es zu früh gewesen sein mag, sie mit aus unserer Heimat mitzunehmen, um sie an unseren Welten teilhaben zu lassen. 

Schließlich erweichte sie mich. Sie erzählte mir von der Vision, die sie von der Erde und dem darauf erblühenden Leben sähe, und dass es etwas ganz anderes als die Schöpfungen unserer Artgenossen werden würde, etwas Atemberaubendes. Etwas wahrhaft Schönes. Etwas, das ihre Mutter erreichen würde. Ich konnte nicht mehr standhaft bleiben. Rückblickend stellte ich fest, dass sie mich bereits damals in ihrem Sinne manipulierte, bewusst oder unbewusst. Aber ich sah nur meine Tochter, ein Wunderkind, das als eine der frühesten unserer Art zu einem ‘Zeuger’ aufsteigen würde. Ich obschenkte ihr am vier-zentillionensten Freudentag ihrer Entstehung das Universum der Erde. Eine Welt, umgeben von großem Licht, farbenfrohen Himmelskörpern und einer sternenklaren Dunkelheit. So machte ich meine Tochter glücklich, zeigte ihr mein Vertrauen, und hatte nun Zeit für weitere Universen. Für weitere Welten. Ich ging, doch versicherte ich ihr, dass ich immer bei ihr sein würde, um zu sehen, wie ihre Kreation voran schritt.

Es war bald darauf, dass mir zum ersten Mal ein Blick auf das wahre Gesicht meiner Tochter gewährt wurde: - Die Art, die sie und ich für die Erde so mühsam und liebevoll gemeinsam erschaffen hatten, die Dinosaurier, wurden von ihr ausgelöscht. Ein tiefroter Himmel kündigte es an, brennende Feuerbälle stießen hinab und äscherten alles in ihrem Weg ein, Erdspalten taten sich auf und verschlangen sie zu tausenden. Markerschütternde Beben, glühende Magma-Meere und undurchdringliche Rauch-, und Nebelschwaden, die das für die Erdenwesen doch so notwendige Atmen unmöglich machten, richteten auch noch die letzten von ihnen. Als ich meine Tochter zur Rede stellte, war sie sich keiner Schuld bewusst. 
Für ihren Traum – für ihre vollkommene Rasse – so ihre Worte, mussten die Dinosaurier von der Erde verschwinden. Schnell. Ohne Chance auf Überleben. Sie wollte kein langes Leiden für unser beider Schöpfung. Ich glaubte ihr. Doch gleichwohl wurde ich stutzig. Ich erschuf ihr einen Bruder, den sie Jesus nannte. Er sollte auf sie Acht geben und sie beraten in ihrer Welt. 

Dann verging viel Zeit. Ich sah, wie die Kreation meiner Tochter, die nach unserem Bilde geformt war, heranwuchs und sich entwickelte. Sie nannten sich Menschen in deren Entwicklungsstufen sich die zu Anfang schrecklich rudimentäre, unsaubere und ungeschickte Erfahrung meiner Tochter im Zeugen einer Spezies zeigte, die sich aber zunehmend verbesserte, raffinierter, ja komplexer wurde. Schließlich beherrschten die Menschen eine Kommunikationsform ähnlich der unseren, die Sprache. Das stechende Gefühl, das mich damals beim Ende der Dinosaurier heimgesucht hatte, musste keine Bedeutung gehabt haben, so meine Schlussfolgerung. Ich widmete mich dem erblühenden Leben in meinen Welten. 

Es war Jesus, der mich zurückrief. Der Bruder der ihr zur Seite stehen sollte. Der Bruder, den sie zum Menschen degradierte und auf die Erde geworfen hatte unter dem Vorwand, er könne etwas über ihre Kinder lernen. Doch rief er erst dann nach mir, als es für ihn bereits zu spät war - Er verbrachte 33 Jahre unter den Menschen, um zu der entsetzlichen und markerschütternden Erkenntnis zu gelangen, dass die Schöpfung meiner Tochter, wie er es bezeichnete, unrettbar böse war. Eine Spezies von einer Niedertracht und Selbstzerstörerischkeit, wie nur ein Monster sie erschaffen könne. Aber beging er wie auch ich den Fehler, meiner Tochter zu glauben als sie ihm beteuerte, dass sie den Weg nicht wollte, den die Menschen einschlugen, und dass ihre Schöpfung außer Kontrolle geraten war. Sie musste verzweifelt, flehentlich gewesen sein. Und so wandte Jesus sich an die Menschen selbst, setzte ihnen ein Zeichen und opferte sich für ihre Sünden am Kreuz. Er rief zu mir. Rief meinen Namen an. Als ich da war, um Zeuge der Geschehnisse zu sein, hatte meine Tochter ihn bereits auferstehen lassen, und machte ihn damit zu einer der bedeutensten Glaubensfiguren ihrer Welt. Nicht im selben Maße bedeutend jedoch wie der Name, den die Menschen ihr nun gaben - Gott

Ich stellte sie zur Rede. Sie versicherte mir, dies wäre ein positives Zeichen gewesen. Etwas Großes. Etwas Gutes. Ein Mahnmal der Demut. Kaum wusste ich, dass sie damit die Demut vor ihr meinte. Doch zu verblendet war ich von meinem tiefen Vertrauen in sie, um einzugreifen. Jesus sollte auf Erden bleiben, um die Menschen anzuleiten. Erst viel, viel später erfuhr ich, dass meine Tochter ihn bare Tage nach meinem Weggang von einem Schweinekarren überfahren ließ, und ihn als Sternenstaub im Universum verteilt hatte. Bei meinem nächsten Eintreffen bemerkte ich, dass die Lebensspanne der Menschen gering, ihre Sterblichkeit hoch war. Ich fragte, was meine Tochter mit ihren Seelen tat, nachdem diese erloschen waren, und sie zeigte mir ihre Besondere Ecke des Universums. Eine Ecke absoluter Schwärze und endloser Dunkelheit, in der die Seelen in winzige Kugeln gesperrt wurden und herumtrieben, für immer und ewig den Moment ihres Todes durchlebend, dort, im vollkommenen Nichts. Dieses Schicksal war angelehnt an eine der Strafen, die in unserer Heimat für Böses verhangen wurde. Angemessen für Lebewesen unserer Lebensspanne, für die diese Strafe nicht mehr als ein Moment war. Unaussprechlich grausam jedoch für Menschen, deren Leben kaum hundert Jahre umfasste, und die ein vielfaches dieser Zeit bis in schiere Ewigkeit im Nichts zubrachten. Meine Tochter, so erklärte sie mir, hielt das für die richtige Methode, die verstorbenen Menschen über ihr Leben und ihre Fehler sinnieren zu lassen. Ich protestierte und forderte ein zeugerwürdiges Ende für alle Seelen, seien sie gut, seien sie Böse. Sie erschuf Himmel und Hölle - Zwei Ebenen, unter und über ihrer Welt. Die Eine für das Böse, es zu martern und sühnen zu lassen, die Andere für das Gute, es zu ehren und in Ewigkeit dankbar zu stimmen. Als ich sie fragte, ob sie die Entscheidung darüber alleine vornehmen würde, präsentierte sie mir ihre neueste Kreation - Die Engel. Seelen, die sich im Leben besonders hervorgetan hatten, und gemeinsam mit ihr Gericht über jede sterbliche Seele hielten, die in den Himmel oder die Hölle zu gelangen hatte. Selbstverständlich verschwieg mir meine Tochter die Tatsache, dass die Zuteilung andersherum war, als ich sie vermutete - Wer schlecht, grausam, egoistisch und zerstörerisch war gelang nach seinem Tod in dem Himmel, die Bösesten unter ihnen als Engel, während die Rechtschaffenen, die Guten, die Aufrichtigen in der Hölle litten und um Gnade flehten. Schon bald bildeten die Menschen große Gruppen, um meine Tochter unter dem Namen Gott anzubeten. Sie nannten sich Religionen. Doch eben diese Religionen, die auf der Erde Einigkeit und Wohlstand verbreiten sollten, verschlechterten die Lage der Menschheit. Ich beobachtete wie Glaubenskriege, lebende Opfergaben, Massenverbrennungen und Machtmissbrauch auf der Welt Einzug hielten, und dachte intensiv über die Worte meines verschollenen Sohnes Jesus nach. Hatte er recht? Waren die Menschen wirklich unrettbar böse? Oder war es doch eher ihr Gott? Ich sprach mit meiner Tochter und fragte, ob sie das Verhalten ihrer Schöpfung gutheiße. 
“Bist du zufrieden?” Fragte ich. 

Sie beobachtete die Menschen für einen langen Moment eingehend, die blauen Augenbrauen gesenkt, ehe sie mich mit den von ihrer Mutter hinterlassenen, gelben Augen scheinbar ausdruckslos ansah.
“Nein, ich bin nicht zufrieden. Denn ich bin Gott, und ich zürne fürchterlich. Ich trage jetzt Verantwortung. Die Menschen glauben und verlassen sich auf mich. Es ist Gottes Pflicht, ihnen den Weg zu weisen.” 

Diese Worte waren mir fremd von meiner Tochter, und so auch ihre Stimmlage. Fraglos jedoch, dass sie recht hatte. Ihre Kreation, die Menschen, waren selbstzerstörerisch, und das im Namen Gottes. Nur Gott war es, der dem ein Ende setzen konnte. Und sie setzte ein Ende. Bevor ich Einspruch erheben konnte, war es vollbracht. Meine Tochter sprach nicht zu ihren Geschöpfen. Sie beschäftigte sich nicht mit ihnen, und versuchte ganz sicher nicht, sie zu verstehen. Denn sie erkannte sie nicht als eigenständige Existenzen an. Gott zürnte ihnen nur. Und so, Vernichtung. Bestrafung. Eine Sintflut, die millionen von ihnen ertrinken ließ. Eine Sintflut, die die Erde versenkte.  Eine Sintflut, die Gottes Strafe war. Sehr bemühte ich mich, die Gnade hinter meiner Tochters Taten zu sehen, die Weisheit darin zu verstehen. Ich dachte an unsere Heimat, und wie wir dort mit Fehlverhalten umgingen. Ich dachte an die Welten anderer Zeuger, dachte an meine Welten. Einen Halt fand ich nicht. Die Erde blieb einzigartig. In meinen Zweifeln versunken bemerkte ich nicht meine an mich herantretende Tochter. Sie suchte meinen Blick mit ihrem und wickelte ihr blaues Haar um ihren Finger - Eine Geste, die sie sich von ihrer Schöpfung angeeignet hatte.
“Ich heiße Fehlverhalten nicht gut. Ich bestrafe es. Sie werden sich von nun an besser benehmen. Bist du zufrieden?” 

Ihr letzter Satz - Eine Frage, die keine war. In ihren kalten, gelben Augen und dem Klang ihrer Stimme erkannte ich, was Jesus gemeint hatte, und was das Gefühl ausdrückte, das mit seit jeher plagte. Ihre Frage sollte mir spotten. Meine Tochter wollte mir klarmachen, dass ich diese Sintflut ausgelöst und die Menschen vernichtet hatte, indem ich ihre Schöpfung kritisierte. 
Und gleichwohl lag in ihr eine Drohung, die ich damals nicht erkannte. Ich verließ das Universum meiner Tochter, doch beobachtete weiter die Erde, ohne es ihr zu sagen. 

Die Menschen besserten sich. Doch waren sie unbeugsam und unnachgiebig in ihren Ansprüchen an sich selbst. Sie entwickelten sich immer schneller, weg von in Gruppen zusammengeschlossenen und in begrenzten Teilen der Erde lebenden Völkern hin zu einer verbundenen, herrschenden und ambitionierten Spezies, die die Welt umspannte. Meine Tochter hätte mit ihrer Menschheit glücklich sein müssen, die nach vielen Konflikten und Tragödien nun doch ihren Weg zur Glückseligkeit fand. Die herausragend war selbst unter hochbegabten Zeugern. Ich schätzte die Mittel meiner Tochter nicht, doch offenbar wirkten sie. 

Es entsetzte mich umso mehr festzustellen, dass sie jetzt, da sie sich meiner Präsenz nicht bewusst war und die Menschen ihre Triebe und Zerstörungswut abgelegt hatten, ihre Welt eigenhändig manipulierte. Mit kleinen Eingriffen in Zeit, Ort und Emotion löste sie einige der größten Menschenvernichtungen der Erde aus, welche bekannt wurden als ‘Weltkriege’, ‘Revolutionen’, ‘Diktaturen’. Ereignisse, die in unserer Heimat gänzlich ausgeschlossen waren. Meine Tochter sah mit einem zufriedenen, kleinen Lächeln dabei zu, wie sich ihre so mühsam entwickelte und disziplinierte Schöpfung gegenseitig bestialisch ausrottete, und jedes Mal, wenn die Menschen sich nach großen Verlusten doch wieder die Hand reichten und die Konflikte beendeten, entfachte Gott sie von Neuem. Das funktionierte zu meiner Erleichterung nicht ewig. Die Menschheit wurde aufmerksamer, vorsichtiger, bewusster ob ihrer Geschichte. Sie vermied gewaltvolle Auseinandersetzungen zunehmend, suchte friedliche Lösungen, Bündnisse und vor allem Vernunft. Vernunft, welche in unserer Heimat unabkömmlich war. Das zunehmende Vertrauen auf die Vernunft in den Menschen zeigte mir doch, dass sie die Kinder meiner Tochter waren, die wiederum mein Kind war. 

Aber sie hörte nicht auf. Ich lernte, so widerwillig ich es mir auch eingestand, dass meine Tochter die Erde nie übernommen hatte, um sie in ein Paradies zu verwandeln. Dass sie die Menschheit nach unserem Bilde nicht erschaffen hatte, um sie zu einer glücklichen und vollkommenen Zukunft zu führen. Es ging ihr einzig und allein darum, Gott zu werden, und jene hilflosen Wesen die ihrer Gnade ausgesetzt waren zu beherrschen. Sie fürchten zu lassen. Sie leiden zu sehen. Sie Demut zu lehren. Es gab einen seltenen, sehr seltenen Zustand höchster Unvernunft in unserer Heimat, der trotz seiner Seltenheit mit unvergleichlicher Sorgfalt behandelt wurde - Das menschliche Wort, das diesen Zustand am ehesten nahe kommt, 
ist Wahnsinn. Und als meine Tochter begann, die Erde selbst gegen die Menschen zu richten, gigantische Stürme und Tsunamis, Erdbeben und Vulkanausbrüche, Naturkatastrophen von erschreckender Alltäglichkeit über ihre Schöpfung zu bringen, die grausamsten Seelen im Himmel als Neugeborene wieder in die Welt zu schicken, da musste ich einsehen, dass sie diesem Zustand zum Opfer gefallen war. Vielleicht, seit ich sie hierher mitgenommen hatte. Ich Narr fürchtete mich vor dem, was aus meiner gütevollen Tochter geworden war. Aber handelte es sich überhaupt um meine Tochter, die zu all dem im Stande war? Oder doch eher Gott? Ich griff erst ein, als sie der Erde ein gewaltvolles Ende setzte. Als Kontinente auseinanderbrechen, Meere die Landmassen überschwemmten, Flammen vom Himmel regneten. Die Menschheit weinte. Die Menschheit flehte. Sie flehte zu Gott, sie zu erlösen. Doch Gott lächelte nur, denn Gott war zufrieden. Und Gott sagte, dass es gut war.

Ich erschien vor meiner Tochter und stieß sie vom Universum fort. Fort zu mir, um sie zur Rede zu stellen. 
“Was tust du da?  Warum tust du es? Was hast du vor? Was ist passiert?” 

Vier Fragen, deren Einfachheit und Emotionsgetränktheit mich von mir selbst schockierten. Das Wesen, das mir gegenüberstand, und das einst meine Tochter war, trug im Gegensatz zu mir keine Emotion zur Schau, ganz wie es den Zeugern ein Gebot sein sollte. 

“Ich bin nicht mehr länger nur eine Tochter. Ich bin nun auch eine Mutter. Eine Mutter muss ihre Kinder erziehen. Sieh sie dir an…” Ihre gelben Augen sahen hinab auf ihre Welt, ihre Menschen, ”... Siehst du, wie sie sich von mir abwenden? Wie die Religion an Bedeutung verliert, und ihre alberne Wissenschaft gewinnt? Solcher Undank kann nicht weiter fortbestehen. Und was resultiert daraus? Die Menschen werden schlecht. Sie kehren sich voneinander ab, stiften Hass, stiften Tod, lieben nur sich selbst. Das ist nicht das Paradies, das ich errichten wollte. Vielleicht muss ich von Neuem beginnen. Nicht als Tochter, sondern als Mutter.”

Ich wusste nun einzuschätzen,  wann sie lügte. Und ich erkannte, dass sie das im Moment nicht tat. Da verstand ich meine Tochter. Sie hatte nie, kein einziges Mal, bewusst etwas in ihren Augen Böses getan. Sie wusste nicht, dass sie diese Kriege ausgelöst hatte. Sie war sich nicht im Klaren darüber, dass sie die Katastrophen auf der Erde ganz alleine zu verantworten hatte. Aber das Schlimmste schien ihr Unwissen darüber, warum ihre Schöpfung war, wie sie war. 

“Und du glaubst, diesmal werden die Menschen anders sein?” 

Ehrliche Überraschung ließ sie ihre Augen weiten. 
“Aber natürlich. Wie könnten sie nicht? Meine Erfahrung wird bringen, dass sie gut und gerecht sind, dankbar für das was ihnen gegeben wird, aufrichtig wie ihr Gott. Ich begehe nicht nochmal den Fehler, sie ihrer eigenen Entwicklung zu überlassen und von meinem Willen abzukommen.”

Die folgenden Worte sollten die schwersten sein, die ich je gesprochen hatte. 
“Die Menschen sind nicht von deinem Willen abgekommen. Sie blieben bei ihm, und als ihrem Gott das nicht mehr reichte, vertieften sie ihn immer weiter, bis sie schlecht waren wie er. 
Deine Schöpfung ist böse, weil du böse bist.”

Ein Moment der Stille, an den ich noch ewig zurückdenken sollte. Dann, unendlich langsam, beobachtete ich im Gesicht meiner Tochter eine nur allzu menschliche Regung - Zorn. 
Wie kannst du es wagen…?

“Wie ich es wagen kann? Ich gab dir die Erde. Ich gab dir ihr Schicksal, und die Verantwortung über das Leben auf ihr. Doch du scheinst dem nicht gewachsen zu sein. Zu sehr mangelt es dir an Klarheit über dein eigenes Ich.”

Nie hatte ich davon gehört, dass ein Zeuger einem anderen Zeuger zu schaden versuchte. Nie hätte ich erwartet, dass meine Tochter der Erste sein würde. Wir waren unsterblich, doch wir waren nicht unantastbar. Sie wusste das.  Unaufmerksam im richtigen Moment, und die Kraft eines Zeugers konnte brechen, was unbrechbar war, seine unerreichte Erfahrung vorausgesetzt. Sie hatte sich darauf vorbereitet, lange. Tief in ihr war also doch ein Bewusstsein für Gut und Böse. Ich brach zusammen und fühlte, wie meine Seele mich verließ, wie der Segen des Zeugens mich verließ. Der Tod war uns ein fremdes Konzept, nur das Verschwinden kannten wir, wie auch ihre Mutter verschwunden war, doch das hier fühlte sich anders an. Schmerz erfüllte mich zum ersten Mal seit dem Beginn meiner Existenz. Sie trat vor mich und sah auf mich hinab.
“Dies ist meine Welt. Und wie es Gesetz ist unter Zeugern ist es dem einen untersagt, in das Werk des anderen einzugreifen. Ich vollstrecke deine Strafe selbst.”

“Das kannst du nicht tun… ! Du bist meine Tochter!!” 

“Nein, ich kann das nicht tun… aber Gott kann es. Doch fürchte dich nicht, denn Gott ist gnädig, und Gott ist barmherzig, und Gott ist nachsichtig mit seinen Sündern. Du sollst hier bleiben, und Gelegenheit bekommen, die Erde und die Menschheit in deinem Sinne zu verbessern, wie du es wünschst. Doch werde ich bald, in hunderttausend Jahren schon, deine Welten Buße tun lassen. Auch sie sollen den Segen einer liebenden Mutter erfahren.” 

“Was… ?”

“Bestimme selbst, wie du deine neue Existenz nutzt. Verbringe deine Kraft und Zeit, die Menschen der Erde zum Guten zu beeinflussen und vor Gottes Strafen zu bewahren. Opfere deine Welten. Oder nimm die Seelen der Menschen, verführe sie, gewinne ihren Glauben, um erneut zum Zeuger zu werden und deine Welten zu retten. Die Wahl ist dir gegeben. Das ist meine Gnade.”

Sie zerstörte die Welt. Doch sie drehte ihre Zeit zurück und erschuf sie von Neuem. Sie zwang mich in eine Gestalt, die die Menschen ängstigte und ihren Hass auf mich steigerte - Hörner, Hufe, das Antlitz eines Monsters. Sie berichtete ihnen, ich wäre ein gefallener Engel, das wahre Böse, der Teufel. Sie verbannte mich in die Hölle, und machte mich bekannt als den Feind Gottes, der den Menschen zu schaden gedachte. Was ich noch tun konnte, war begrenzt - Ich fing die Seelen schlechter Menschen in der Hölle, um sie von der Erde fern zu halten, und sendete die Seelen guter Menschen in den Himmel. Ich kämpfte, kämpfte mit dem Wissen, dass mir nur hunderttausend Jahre blieben, wieder ich selbst zu werden, und meine Welten zu retten. Quadrilliarden Leben hingen davon ab. Gleichwohl sah ich an, wie die Geschichte der Welt sich wiederholte, Plagen, Kriege und Katastrophen die Menschen quälten, die mich dafür verantwortlich machten. 

Ich begrub meine Emotion, und begrub mein Gewissen. Ich begrub mein Herz, und nahm die Vernunft. Die Vernunft, die meines Volkes Zeichen war. Die Vernunft, dass eine Welt weniger wert war als millionen Welten. Ich wurde zu dem, was man in mir sah - Ich sammelte Gläubige unter den Menschen, kleine Religionen entstanden um mich, und ich nahm Blut und Menschenopfer entgegen, stand für die schrecklichsten Taten mit meinem Namen, sammelte Seelen und Leid, um zu erstarken. Gleichwohl hatte meine neue, niedere Existenz meine Gefühle erstarken lassen, die der Vernunft meines alten Lebens widersprachen. Ich nahm den Kampf mit Gott auf. Opferte die Seelen, die ich sammelte wieder, um die Katastrophen zu beenden. Um Fehlgeburten zu verhindern. Um das schlechte im Menschen zum Guten zu wenden. Sie wussten es nicht, und ich gewann nur sehr, sehr langsam an Kraft. Aber es war das Richtige. Das sagte mir mein Selbst, und das sagte mir meine Geliebte, die in meinen Gedanken war.

Ich muss sie vor Gott beschützen. Die Erde, und alle anderen Welten. Meine Zeit läuft. 
Ihre Zeit läuft. Und sie ist nicht verloren. Sie ist Gott. Sie ist eine Tochter. Sie ist eine Mutter. Doch vor allem ist sie mein Kind. Und mehr als alles andere, werde ich sie retten. 
Irgendwann, in hunderttausend Jahren. 
Als Teufel, als Zeuger. 
Und als Vater.

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