Sonntag, 14. Juli 2019
Fernweh, und unser Platz in der Welt
Als ich diesen Blog eröffnet habe, tat ich das nicht nur, um halbgare Reviews zu Filmen und Spielen zu veröffentlichen, sondern auch um Gedanken, die mir durch die Synapsen fließen, ab und zu in die Welt hinaus zu schreiben. In diesem Sinne wird das hier der erste solcher Beiträge, einfach ein paar kohärente Gedanken zu einem Thema das mich dieser Tage beschäftigt hat, ohne Ziel und feste Struktur möchte ich ein wenig darüber reden.
Für alle, die sich nun eventuell fragen, ob das Lesen für sie im entferntesten interessant sein könnte: Wie der Titel es verrät, geht es um zwei Schwerpunkte, die sich inhaltlich auch mitunter überlappen. Das Fernweh in Hinsicht auf Urlaub und andere Wohnorte als auch die Signifikanz, die unser Geburtsort auf unser Leben hat.
Ohne großes Trara gehe ich zuerst auf das Elementarere von beiden ein - Unser Platz in der Welt. Wir alle werden - und das meistens zufällig - eines Tages irgendwo auf die Erde geboren. Wenn wir Glück haben, sogar als Mensch, je nach Blickwinkel auf das Leben. Welche unglaubliche Wichtigkeit diesem Zufall, wo und unter welchen Umständen wir geboren werden, aber beiliegt, darüber machen wir uns selten Gedanken.
Wir leben, und dabei gehe ich nun wirklich nur von meiner Industrieland-Perspektive aus, ohne mich dabei in die Menschen in Entwicklungsländern hineinversetzen zu können, in einer Zeit und einer Gesellschaft, die sich über Freiheit und Chancengleichheit definiert. Wir sind frei, mit unserem Leben zu tun, was wir möchten, und wo wir es möchten, und dabei bietet die Gesellschaft uns allen mehr oder weniger die selben Chancen. Beides ist natürlich völliger Quatsch. Wir sind weder frei noch gleichberechtigt.
Warum sind wir nicht frei? Weil wir nicht bestimmen können, wo wir geboren werden. Ob du als Mädchen in ZentraIitalien oder als Junge in Nordamerika geboren wirst, bestimmt buchstäblich den kompletten Verlauf deines Lebens, deine Persönlichkeit und dein Umfeld. Nehmen wir mal an, du bist Max. Max wird zu einem anständigen Erwachsenen heranwachsen, der im Leben alles richtig macht und viele ehrgeizige Ziele hat. Seine Persönlichkeit hat scheinbar nicht viel damit zu tun, dass er in Deutschland geboren wurde. Wäre Max jetzt aber mit genau dieser Zukunft in Japan, Russland oder Australien geboren, wäre er unweigerlich ein vollkommen anderer, anständiger, ehrgeiziger Mensch mit anderen Träumen und Wertvorstellungen. Die Umstände unserer Geburt beherrschen uns. Und das meint natürlich nicht nur die Geografie - Fast noch schwerer wiegt der Status. Das folgende ist keine große Neuigkeit - Es ist ein Unterschied, ob man als fünfte Tochter einer unterständischen Familie oder als erste Tochter einer reichen Popsängerin geboren wird, oder ob man als Tochter einer Anwältin und eines Polizisten oder als Tochter einer Erzieherin und eines Lehrers geboren wird. All das legt unweigerlich den Weg unseres Lebens fest, so sehr wir vielleicht auch probieren, uns dagegen zu wehren oder auszubrechen, selbst wenn wir aus Trotz genau das Gegenteil von dem machen, was unsere Eltern oder unser Umfeld erwarten, tun wir das nur wegen genau diesen Umständen. Noch stärker als Status und Umfeld und all das wiegt aber finde ich wirklich das Land, in dem man geboren wird. Man ist sein Leben lang an dieses Land gebunden und, möglicherweise, auch dort gefangen.
Nun könnte man sagen Moment, wir sind ja frei und leben in einer verbundenen Welt, jeder junge Mensch hat die Möglichkeit, umherzureisen und natürlich auch in andere Länder umzuziehen. Niemand ist in dem Land gefangen, in dem er geboren wurde, es steht jedem frei, überall auf der Welt zu leben. Ja, aber ganz ehrlich... wie viele Menschen tun das? Wie viele Menschen gehen tatsächlich den Schritt, ihr Geburtsland zu verlassen und dauerhaft in einem ganz anderen Land zu leben? Es dürften im großen und Ganzen verschwindend wenige sein, einmal abgesehen von der unglaublichen finanziellen Belastung ist es eben ein gigantischer Aufwand und eine komplette Umstellung in ein neues Leben in einer Umgebung, die wir nicht kennen. Natürlich hätte ich den Traum, aus Deutschland weg nach Norwegen zu ziehen und dort zu arbeiten, aber wird das jemals mehr werden als ein Hirngespinst? Natürlich nicht.
Nun sind wir aber immer noch frei, und in andere Länder zu reisen ist einfacher als jäh zuvor, und so können wir uns von der Tatsache unserer angeborenen Gefangenschaft ablenken, indem wir Urlaub in anderen Ländern machen - Aber so gut es uns da auch gefällt, Zuhause ist eben Zuhause, und so treibt es uns doch immer wieder zurück an den Ort, den der Zufall oder der liebe Gott für uns auf dieser Erde vorgesehen hat. Mal abgesehen davon, dass ich persönlich das mit dem einfachen Reisen nicht so sehe. Reisen in andere Länder mag einfacher als je zuvor sein, das macht es aber immer noch nicht einfach. Ich bin 25 Jahre alt und habe Deutschland noch nie verlassen. Ich möchte seit 10 Jahren nach Japan, oder England, oder Norwegen, aber es war mir nicht möglich. Denn Reisen und Urlaub ist unglaublich, unglaublich teuer, zumindest, wenn man nicht gerade nach Osteuropa, Österreich oder in die Schweiz will. Und ganz ehrlich, warum sollte man das wollen? Diese Orte sind der exakt selbe Kulturraum wie der unsere, und es fehlt ihnen in meinen Augen an Alleinstellungsmerkmalen, die z.b. ein Großbritannien oder ein Skandinavien hat. Um das Hotel zu genießen? Das kann ich auch in Deutschland. Wenn du zwei Wochen Urlaub in Japan machen möchtest, stell dich schon mal auf 3000 € pro Person ein. Hast du nicht? Tja, dann bleibst du wohl in deinem angeborenen Gefängnis, und das Einzige, durch das du in naher Zukunft an andere Länder herankommst, ist Google Bilder.
Auf was ich auch noch eingehen möchte, ist der simple und doch allerkomplexeste Zustand des Glücklich seins. Wenn du glücklich aufwächst und zu einem glücklichen Erwachsenen wirst dort, wo du geboren wurdest, gibt es keine Probleme. Du hattest Glück mit deinem Los, hast das Beste daraus gemacht und musst dich nicht mit der Frage aufhalten, ob das anderswo ebenso geklappt hätte. Was aber, wenn du unglücklich bist? Wenn du mit deinem Leben unzufrieden und nicht erfüllt bist? Solche Menschen, zu denen ich auch zähle, müssen sich unweigerlich fragen wie ihr Leben verlaufen wäre, wären sie anderswo geboren. Die Antwort ist einfach: Vollkommen anders.
Der zweite Aspekt, der natürlich schon in vielerlei Hinsicht angekratzt wurde, ist mein persönliches Fernweh. Das hängt mit dem Grund zusammen, aus dem ich überhaupt erst wieder über das ganze Thema nachgedacht habe - Ich lebe seit acht oder neun Jahren in der Stadt Leipzig. Am Anfang mochte ich sie gar nicht, mittlerweile habe ich mich mit ihr angefreundet, aber ich finde, acht Jahre sind genug Zeit für eine Stadt im Leben eines (noch) jungen Menschen, vielleicht zu viel. Ich empfinde Leipzig auch heute noch als nicht besonders schöne Stadt, identifiziere mich nicht mit ihr und noch weniger mit dem Bundesland in der sie liegt, Sachsen. Nichts würde ich lieber tun, als nach Hamburg hoch in den Norden zu ziehen, eine riesige Welt-Hafenstadt, ein kühles Klima, ein neuer Lebensabschnitt. Fernab von Sachsen oder dem alten Leipzig. Doch es ist mir nicht möglich. Mal abgesehen von anderen Ländern ist es mir noch nicht einmal möglich, mich im eigenen Land von den dicken, schmiedeisernen Ketten meiner Wurzeln zu lösen. Denn in Hamburg gibt es für mich nichts, es wäre ein Neuanfang, während hier in Leipzig Familie, Bekannte, Job, Sicherheit sind. Als Sozialassistent habe und werde ich lange, lange Zeit nicht ansatzweise die finanzielle Stabilität haben, das alles aufzugeben, nach Hamburg zu ziehen und mir etwas Neues aufzubauen. Ein Arzt, Anwalt oder Künstler? Klar kein Problem, sobald sie umziehen wollen, machen sie das im vorbeigehen. Aber die Mittel- bis Unterschicht bleibt da, wo sie ist. Für mich müsste es nicht Hamburg sein. Bremen, München, Kiel, Düsseldorf - Irgendetwas Neues, irgendetwas Aufregendes, etwas anderes als Leipzig, ein neuer Lebensort der mir das Gefühl gibt, nicht mein ganzes Leben in meiner Geburtszelle zu versitzen und nichts von der Welt zu sehen.
Denn für viele, nicht allzu wohlhabende, Menschen wird es genau so sein - Sie verlassen ihr Leben lang ihr Heimatland nicht, und vielleicht nicht mal ihre Heimatstadt, und sind dann vielleicht auch zufrieden damit. Aber sie sind Gefangene des Zufalls, der sie dorthin gebracht hat. So wie auch ich gefangener Sachsens bin. So dramatisch es klingt, je länger man darüber nachdenkt, desto näher kommt man der Erkenntnis, dass man mehr reisen,
und wirklich etwas von der Welt sehen sollte, wie man immer sagt.
Vorausgesetzt natürlich, man hat das nötige Kleingeld. Aber so ist es ja immer im Leben.
Ein letzter Aspekt sind jene Menschen, die beim Los der Geburt vielleicht die ganz große Niete ziehen - Ein Kind geboren in einem armen, afrikanischen Land, das vielleicht mit drei Jahren verhungert, weil es das Pech hatte, dort geboren zu werden, hat natürlich deutlich mehr Grund sich zu beschweren als jemand, der in einem Industrieland Europas zum Leben erwacht, keine Frage. Oder jene Menschen, die in Kriegsgebieten aufwachsen, und sich täglich mit Schusswechseln und Granatenbombardements auseinandersetzen müssen. Aber das darf uns, die wir in Industrieländern leben, nicht das Recht nehmen, auch unglücklich mit unserem Geburtsort oder unserer Heimat zu sein. Woanders hin zu wollen.
Das zu untersagen, wäre eine ähnliche Attitüde wie
"Beschwer dich mal nicht über dein Leben, die verhungernden Menschen in Afrika haben viel größere Probleme."
Wie wütend mich solche und ähnliche Aussagen immer wieder machen. Natürlich geht es hungernden Menschen schlimmer als uns, die wir in der Regel ein Übermaß an Lebensmitteln haben. Natürlich machen Kriegsopfer Schrecken jenseits unserer Vorstellungskraft durch, die wir in Frieden leben. Weil sie vom Geburtenroulette woanders geboren wurden. Wir sind hier, und unsere Leben, Probleme und Sorgen sind andere, aber sie haben ebenso eine Existenzberechtigung wie der Kampf ums Überleben. Wir können nichts dafür, dass die ersten beiden Stufen unserer Bedürfnispyramide, Existenzbedürfnisse so wie Sicherheit durch unsere Heimat sichergestellt sind, so dass Sozialbedürfnis, Anerkennung und Selbstverwirklichung in den Fokus unseres Lebens treten, und wir müssen uns auch nicht dafür schämen. Und aus unserer, meiner Perspektive sind Einsamkeit, relative Armut und Ziellosigkeit in unserem Kulturkreis genau so marternde und lebensbestimmende Leiden wie Hunger, Krieg und Infrastruktur in anderen. Ich würde die Intensität beider Welten nie vergleichen, wohl aber beide nebeneinander stellen.
Denn wenn es von einem nun wohl wirklich mehr als genug auf unserer Welt gibt, dann Leid, und jeder bekommt sein ganz Persönliches ab.
Eine Abweichung vom ursprünglichen Thema, aber so ist das eben bei diesen Gedankensheets. Freiheit ist eine Illusion. Und Chancengleichheit ist eine Lüge. Auf Letzteres werde ich aber eventuell nochmal gesondert irgendwann eingehen. Ich persönlich hoffe, meinem Käfig doch noch irgendwann entkommen zu können, aber mein Leben als junger Mensch ist dann vermutlich vorbei, und ich muss mich damit abfinden, mein halbes Leben am selben Ort verbracht zu haben, an dem ich nicht sein wollte.
Wer hätte gedacht, dass das Leben uns also bereits vor unserer Geburt mit hochgezogener Nase so kräftig ins Gesicht spuckt - Und das in weit mehr als nur einer Hinsicht.
- Yoraiko
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