Mittwoch, 3. Juni 2020

Horrormanga-Nischentipp: Misumisou - Misshandlung bleibt.






Hepatica nobilis, oder auch das ' Gewöhnliche Lederblümchen' übersteht lange, kalte Winter, um im Frühling erblühen zu können. Es erträgt die Kälte, um sich letztendlich durch den Schnee ins Sonnenlicht zu kämpfen. Diese Eigenschaften teilt es sich gewissermaßen mit Haruka Nozaki, der Protagonistin von Misumisou (Hepatica nobilis). 
Doch anders als das Lederblümchen hat die einsame Oberschülerin mit mehr zu kämpfen als nur Schnee - Monströse, grausame Klassenkameraden mobben sie ohne Unterlass auf die niederträchtigste und abscheulichste Weise, bis ihnen auch das nicht mehr genügt und der morbide Alltag von Haruka zusammenbricht - als ihre Eltern und ihre kleine Schwester mitsamt ihrem Haus verbrannt werden.

Manchmal findet man auch als 'Alter Hund' der japanischen Popkultur noch einen Geheimtipp, dem das Rampenlicht verwehrt blieb und immer bleiben wird. Misumisou habe ich über dieses Video entdeckt, welches den Kurzmanga adäquat darstellt. Im Kern ist es eine Rache-Story, jedoch wird diese durch die unter allem liegende Botschaft von Misshandlung, und wie diese Menschen verändert und innerlich korrumpiert, unterstützt. Herausstechend und sowohl Fluch als auch Segen für diesen Manga ist sowohl der groteske, meistens skizzenartig bis abscheuliche Zeichenstil als auch die unglaubliche Brutalität, die davon dargestellt wird. Misumisou ist in seiner (Gewollten) Widerwärtigkeit und Verkommenheit beinahe jedes einzelnen Charakters alles andere als ein einfacher Read. Weder für den Kopf, noch für den Magen.

Gelohnt hat es sich für mich dennoch, denn eine so konsequent erzählte Rachegeschichte habe ich vorher nicht erlebt, in keinem Medium. 




Reality doesn't matter 

So sehr sich Misumisou in seinen Undertönen bemüht, gerade die schonungslos-nahbare Realität von Misshandlung, Mobbing und psychischer Gebrochenheit darzustellen, so himmelweit entfernt ist dieser Manga doch von jeglicher Rationalität. Man muss seinen gesunden Menschenverstand und jeden Sinn für Logik mit dem Einband ablegen, sonst hat man verloren und kann diese Geschichte nicht genießen. Misumisou ist eine düstere Horrorgeschichte in einer realitätsähnlichen Umgebung, nicht mehr und nicht weniger. Polizei existiert nicht oder interessiert sich nicht für haufenweise verschwundene und verstümmelte Oberschüler, Erwachsene sind fast nicht präsent oder nutzlos, es gibt keine Strafverfolgung, keine Umgebung an die man sich wenden kann, keine Eltern die auf die frischen Narben ihrer Kinder reagieren, Lehrer bei denen man sich fragt wie in aller Welt sie das Studium absolviert haben.

Misumisou ist ganz großer Horrorquatsch. Das muss man abkönnen. Aber was Anderes versucht der Manga auch gar nicht. Gut, damit hätten wir das abgehandelt. 







































We all are nuts here 


Womit man in Misumisou ebenfalls leben muss, ist die Schwarzweißmalerei. Betonung auf Schwarz. Ich habe selten weniger Grautöne in einem Manga gesehen als hier. Selbst Vantablack ist nicht so dunkel wie 99 % der Charaktere in Misumisou. Alle hier, vom Oberschulmädchen über die Lehrerin bis zu den Eltern, sind vollkommen durchgeknallt, sadistisch, irre, grausam und irrational. Hier gibt es niemanden, den man mögen kann.

Na ja, ein paar dann doch. Protagonistin Haruka ist unser Leuchtturm, die Identifikationsfigur für den Leser, die als einzige Person in einem kaputten, kafkaesken Umfeld menschlich zu sein scheint. Doch natürlich wird sie schnell zur Rachefigur werden, die Dinge tut, die zwar einerseits zutiefst befriedigend, aber andererseits jenseits von Gut und Böse sind.

Die einzige, wirklich durch und durch positive Figur hier ist Harukas kleine Schwester Shou-chan, die im Feuer ebenfalls stark verwundet wird und im Manga zur zentralen Motivation für Harukas blutigen Rachefeldzug wird.



 
 























Die Antagonisten, also die Mitschüler Harukas, sind kompromisslose Monster aus dem Kuiositätenkabinett. Keiner davon besitzt einen Funken Empathie. Es gibt die eine oder andere Ausnahme, etwa der einzige 'Verbündete' Harukas, Aiba Mitsuru, der sie mit den Lederblümchen vergleicht, aber am Ende des Tages ist niemand in dieser Geschichte wirklich sauber.
 

Eine besondere Erwähnung verdient die zentrale Feindfigur Rumi, welche vor Haruka das Mobbingopfer der Klasse war, und hier im kühnsten Extrem den 'Aus Selbstschutz Mitlaufen' & 'Wenn du zu lange in den Abgrund starrst'-Stereotype auf eine Weise verkörpert, die dem Wort 'Ekel' eine neue Dimension verleiht. Der Autor hat es vortrefflich geschafft, eine der wohl hassenswertesten Mangafiguren aller Zeiten zu kreieren, die einem durch die verstörenden Zeichnungen und ihre grenzenlose Selbstsucht in jedem Auftritt die Kotze in den Rachen treibt. Seht euch die Gute doch mal an:







 




















Ja. Wie gesagt, eine Menge Schwarz. Wenig Grau. Ein bisschen Differenzierung muss bei einem so schwerwiegenden Thema aber dann doch sein, wie ich weiter unten noch kurz anschneide.


Creepy artwork

Misumisou ist vor allem wegen seiner grotesken, gewollt-hässlichen Schockeroptik dem Horrorgenre zuzuordnen. Der einprägsame Zeichenstil von Rensuke Oshikiri lässt Charaktere in normalen Szenen wie unnahbare Strichmännchen aussehen, und verwandelt sie in extremen Szenen und krassen Emotionen in furchteinflößende Monster, denen man auch tagsüber nicht begegnen will. Ein paar weitestgehend spoilerfreie Eindrücke aus Band 1:






 
























Phew. Selten eine so furchteinflößende Darstellung von Wut und Mordlust im Manga gesehen.

Zeichnerisch ist die Geschichte es alleine schon wert, gelesen zu werden, wenn man wirklich grotesken Horror mag. Das ist nicht was für jeden, wie es auf jeden Aspekt dieser Story zutrifft.


Zehn kleine Monsterlein


 























Der Hauptreiz, sich diesen Manga anzulesen und schließlich dran zu bleiben ist offensichtlich und sensationslüstern - nachdem die amoralischen Mitschüler in Band 1 ebenso wie das glockenreine kleine Schwesterchen Shou-chan eingeführt wurde, will man die Bastarde brennen sehen. Das hier ist eine lupenreine Rachestory und darum darf man auch miterleben, wie einer nach dem anderen der widerwärtigen Mitschüler Harukas eiskalter Entschlossenheit äußerst, ÄUSSERT grafisch zum Opfer fällt. Das hat mitunter was von einer Menschenjagd, und es ist entlarvend, dass man das als Leser gerne sieht. Aufgrund der furchtbaren Optik, der fast ausnahmslos auf verschiedene Weise misshandelten Mitschüler und der Falschheit des ganzen verspürt man aber sicherlich keinen YEAH!!-Moment, sondern beobachtet das tragische Geschehen stillschweigend und schluckend ebenso wie Haruka selbst. 

Misumisou und Autor Rensuke Oshikiri fehlt es jedoch nicht an Kreativität, wenn er seine Marionetten ins Nirwana schickt. Wirklich nicht. Und auch nicht, wenn er manche etwas länger tanzen lässt.



Nicht ohne Emotion

Es wäre einfach gewesen, aus Misumisou einen gnadenlosen Rachethriller zu machen wie es Hollywoodfilme so gut können. Aber da man in Japan oft etwas subtiler zu Werke geht, geht es hier vor allem auch um die Emotionen und die Schwere hinter den Taten. Haruka ist im Gegensatz zu den anderen Mensch-Parodien nicht geisteskrank, und sich somit ständig vollstens bewusst, was sie da tut. Das wird reflektiert, bis zum Ende, und nicht einfach als 'Gerechtfertigt' hingestellt. Außerdem gibt es innerhalb der Geschichte immer wieder kleine Twists, die mal mehr mal weniger vorhersehbar sind, und manch ein Antagonist schafft es am Ende sogar tatsächlich, sich ein Stück weit zu rehabilitieren, so dass man mit ihm mitfühlt. Das hätte ich bis zu dieser Stelle nicht geglaubt. 



Fazit

Das Ende von Misumisou ist, kurz gesagt, konsequent. Dieser in zwei Bänden abgeschlossene Manga ist im Kern eine Tragödie, bei dem jeder miserabel und durch Misshandlungen geprägt ist, bei dem nichts zu gewinnen ist und es keine Sieger gibt. Die Geschichte ist schwer zu lesen und am Ende noch schwerer zu verdauen, gibt einem aber bei aller grotesker Gewaltachterbahn die eine oder andere tiefere Botschaft mit, wie sich Misshandlung, Besessenheit, Mobbing oder eben auch Rache auf wirklich jeden Menschen auswirken und alles um sie herum zerstören können. 

Keine schöne oder befriedigende Geschichte, aber definitiv eine, die im Gedächtnis bleibt. Inhaltlich und optisch stark. 
Nicht sonderlich realistisch, aber aussagekräftig. 

Viel Vergnügen mit dieser Empfehlung. 



- Yoraiko





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