Donnerstag, 26. September 2019

Film-Besprechung: Utoya 22. Juli (2018) - 'We are on an island here. We are safe.'

Bildergebnis für utoya 22.juli 


Am 22. Juli 2011 zündete der norwegische Rechtsextremist Anders Behring Breivik
im Zentrum der Hauptstadt Oslo eine Autobombe, die mehrere Menschen das Leben kostete und Weitere verletzte. Zwei Stunden später drang er mit einem Selbstladegewehr bewaffnet auf der nahegelegenen Insel Utøya ein, auf der ein Jugendlager campierte, und erschoss dort im Verlauf von etwa 90 Minuten 69 Menschen. Den Breivik-Anschlägen fielen insgesamt 77 Menschen zum Opfer, weitere gingen verletzt und geschädigt für ihr Leben aus der Sache heraus. Der Täter wurde am selben Tag festgenommen und sitzt mittlerweile seine 21 jährige Gefängnisstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung ab.

So viel zu den Fakten. Ein Terroranschlag, der damals gefühlt ganz Europa den Atem anhalten ließ, und mit seiner Brutalität und Abscheulichkeit traurigen  Alleinstellungscharakter hatte. Wenn man über ein so verhältnismäßig junges, geografisch im eigenen Land verortetes und so tragisches Thema einen Film macht, ist das garantiert nicht einfach, weder für den norwegischen Regisseur Erik Poppe, noch für den Zuschauer. Denn einfach, das war es für mich mit Sicherheit nicht, aber das hatte ich auch nicht erwartet.


Das Schlimmste und Beste an diesem Film ist, dass er authentisch ist. Wir verfolgen 'Protagonistin' Kaja im Jugendlager auf der Insel zunächst in den Minuten vor dem Anschlag, und schließlich durch diesen hindurch, und stets haben wir das Gefühl, wirklich dabei zu sein, zu erleben und zu wissen, wie es sich angefühlt und wie es ausgesehen hat - Kein beneidenswertes Gefühl. Aber es macht diesen dokumentarischen Film um so vieles furchtbarer. Dabei nimmt er sich mit etwas mehr als 15 Minuten genau die richtige Zeit, um die Jugendlichen des Lagers zusammen mit unserer Identifikationsfigur Kaja und ihren Beziehungen zu etablieren und vorzustellen. Allgemein ist der Film naturgemäß sehr anstrengend anzusehen - Er geht 'nur' 93 Minuten, fühlt sich aber länger als zwei Stunden an, nicht im negativen Sinne. 

Die Eskalation, die hier mit dem Eindringen Breiviks auf der Insel stattfindet, der sich als Polizist verkleidete, mit den Jugendlichen sprach und dann anfing auf diese zu schießen, geschieht rasch und unsauber, und vollkommen glaubwürdig. Dabei ist eines ganz wichtig und anerkennend zu betonen: Dem Terroristen und Massenmörder wird in diesem Film keine Bühne geboten. Man sieht ihn den gesamten Film über so gut wie gar nicht, höchstens weit entfernt auf einer Klippe blitzt er mal für ein paar Sekunden auf. Der für mich richtige Weg, ein solches Ereignis darzustellen. Stattdessen sind es gerade gegen Anfang nur die immer wieder dröhnenden, hallenden Schussgeräusche, die sowohl die Jugendlichen als auch mich als Zuschauer zusammenzucken lassen. Ich habe selten in einem Film so lebensechte, furchteinflößende Schussgeräusche gehört. Diese Schussgeräusche ersetzen eine direkte Darstellung des Terroristen in Utoya 22. Juli, und sie sind ebenso bedrohlich. Begleitet werden die Schüsse vor allem in der ersten Hälfte des Films von den (qualvollen Schmerzens-)Schreien der Jugendlichen, Gewimmer, Flehen, Weinen, Verzweiflung, Todesangst. Eine Sonata des Schreckens, die nur allzu oft verstummt, sobald ein weiterer Schuss gefallen ist und durch die Bäume der Insel widerhallt. 

Genau wie die sich versteckenden Jugendlichen, deren Verhalten das dem, welches wir an den Tag legen würden, genau und 1:1 entspricht, fragen wir uns zudem, warum die Polizei, die mit zahlreichen Handys benachrichtigt wird, einfach nicht auf der Insel eintreffen will. Ohne es zu wollen hat der Film hier eine Spannungskurve, die uns als Beobachter wütend und fassungslos macht - Die Behörden wussten, was auf der Insel vor sich geht, aber sie erschienen nicht. Wer sich mit dem Fall auseinandersetzt wird lesen, dass die Behörden große Probleme hatten, ein Boot oder einen Hubschrauber zu organisieren, und dafür später zurecht scharf kritisiert wurden. Das hat den Toten von Utoya jedoch auch nichts gebracht.

Wir begleiten Kaja dabei, wie sie im Chaos auf der kleinen Insel nach ihrer Schwester sucht, versucht andere Kinder zu retten, und sich schließlich unter die Klippen am Rande des Wassers flüchtet. Die ruhigen Minuten, die wir dann mit ihr und einem anderen Jungen in ihrem Dialog bekommen, empfand ich als sehr gelungen in Hinsicht auf den Schrecken, den man in den letzten vierzig Minuten mit verkrampften Händen vor dem Mund miterlebt hat. Gespräche über die eigenen Träume, ein kleiner unverfänglicher Flirt, ein dummer Witz, Gespräche wie die Jugendlichen sie geführt haben werden, während die Schussgeräusche über die Insel hallten. 

Achtung, dieser Absatz ist ein Spoiler - Am Ende bricht der Film mit einer Erwartungshaltung, die ich fast kritisieren wollte - Dass es eine Protagonistin gibt, die sicher ist. Die gab es damals nicht. Und so wird Kaja vor unseren Augen ebenfalls erschossen, weil niemand auf Utoya sicher war. Wir sehen, wie ein paar Jugendliche von einer Bootfahrerin gerettet werden, und der Film endet. Eine von vielen Freiwilligen, die damals Jugendliche von der Insel holten, und teilweise welche abweisen mussten, weil ihre Boote voll waren. Wir bekommen Informationen über den Anschlag als Textanzeige. Creditsmusik gibt es nicht, stattdessen ein unheilvolles, ruhiges Flimmern und das Rauschen des Wassers, um uns mit unseren Gedanken allein zu lassen.

Ein Film, wie man ihn über ein solches Ereignis machen sollte. Bravo. 

Es gibt eine Sache, über die ich noch nachdenken musste. Dieses Ereignis damals, hat mich schockiert. Dieser Film, er hat mich entsetzt. Ein furchtbarer, guter Film, der mir durch Mark und Bein ging. Mehr noch vielleicht als der ein oder andere Film über den Holocaust, den nahen Osten oder den 11.September. Hier läuft man schnell Gefahr, genau wie bei den Anschlägen im November 2015 in Paris, selektive Trauer vorgeworfen zu bekommen. Es stürben jeden Tag überall auf der Welt mehr Menschen als bei solchen Ereignissen, und man würde sich nur darum scheren, wenn es vor der eigenen Haustür geschieht. Jain. Die Sache ist die, und sei es nun der Holocaust oder Syrien - Wir hier in Zentraleuropa leben weder in dieser Zeit noch in dieser Gegend der Welt. Das haben wir uns nicht ausgesucht, aber es ist so. Wir können uns heute einfach nicht mehr vorstellen, dass so etwas wie der Holocaust nochmals stattfinden kann. Das scheint (Zum Glück) vollkommen unmöglich und surrealistisch. Und wir leben (hier) auch nicht im Kriegsgebiet, und so furchtbar die Geschehnisse in Ländern wie Syrien sind, sie sind nicht hier, und so machen sie uns nicht auf die buchstäblichste Weise betroffen. Aber. Die Anschläge vom 22. Juli 2011 fanden in Oslo, Norwegen statt. Im Herzen Europas. Buchstäblich IN unserer Haustür. Nichts hätte Norwegen oder uns darauf vorbereiten können, und es zeigt uns auf, dass solche Dinge immer und wirklich überall passieren können. Nur ein paar hundert Kilometer entfernt von uns tötete ein Mann 77 Menschen. Ich empfinde es als vollkommen verständlich, dass uns das mehr schockiert, entsetzt, ängstigt und betrifft als tragische Tode in weit entfernteren Teilen der Welt oder zurückliegenden geschichtlichen Abschnitten.

Es ist die morbide Nahbarkeit Oslos oder auch Paris', die den alarmierenden und bestürzenden Effekt solcher Anschläge und auch dieses Films ausmacht. 

Utoya 22. Juli jedenfalls war ein ganz großartiger Film. Er ist informativ, er ist geradezu fatalistisch hautnah und nachvollziehbar, und er ist nur schwer zu ertragen. Ich möchte ihn nicht wieder sehen. Aber ich kann ihn absolut jedem empfehlen, der sich so etwas angucken kann.



8/10 Kerzen für Utoya 22. Juli

Yoraiko  

 

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